Elmar bezahlt den zweiten Brief, wechselt das Band und läßt die Briefe an den Pseudo-Dostojewskij, den Dreier-Propagandisten und den Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürsten lesen. Jedesmal zahlt er einhundert Euro. Dann verabschiedet er sich freundlich und geht. Er begegnet gleich zwei Polizisten. Dreht sich, als die vorbei sind, um, er will sehen, ob der Russe zuverlässig ist. Der sitzt immer noch auf der Bank und schaut harmlos ins Grüne. Elmar ist beruhigt.
Auf der Post am Bahnhof holt er Kartons, auf seinem Computer hat er die Adressen geschrieben. Um nicht beobachtet zu werden, bringt er jetzt auf dem Ablagebrett eng an der Wand die Bänder und die Armeemesser in den Kartons unter und liefert die fünf Päckchen am Schalter ab. Daß er dafür in einer Schlange anstehen muß, ist schier nicht auszuhalten. Daß zuletzt noch eine Frau vor ihm ist, die nie mehr aufhören wird, der Schalterbeamtin Fragen zu stellen, deren Beantwortung nur mit Hilfe der nebenan arbeitenden Schalterbeamtinnen möglich ist, erbittert Elmar so, daß er glaubt, diese Unersättliche könnte er nun wirklich umbringen. Er ist diese gewöhnliche Mühsal nicht gewöhnt. Alle anderen, die in den fünf oder sieben Schlangen anstehen, bleiben ruhig und ergeben, bis sie drankommen. Es ist klar, wenn er jetzt zum Protest gegen die Unersättliche aufrufen würde, wären alle auf der Seite der Unersättlichen. Daß auch hier noch ein Polizist auftaucht, macht ihn vollends nervös. Die Mütze ins Gesicht ziehen und sich nicht mehr rühren, bis du drankommst.
XIII.
Elmar nachts in seinem Zimmer. Er ruft Ina an. Und hört: Die gewünschte Nummer ist zur Zeit nicht erreichbar. Versuchen Sie es später noch einmal. Er ruft Kraile an. Auf dem Anrufbeantworter Krailes Stimme: Wenn Sie etwas hinterlassen wollen, bitte sprechen Sie nach dem Signalton.
Er trinkt Whisky. Hat schon getrunken. Trinkt weiter. Eine edle Flasche. Er steht auf, möchte auf und ab gehen, lieber rennen als gehen. Er landet vor seinem Diktiergerät. Er nimmt das kabellose Mikro, schaltet das Gerät ein, probiert, das Gerät nimmt auf. Er trinkt weiter. Säuft nicht, trinkt.
Elmar: Liebe, ich erreiche dich nicht, ich bin bei dir. Ich bin bei dir, mein Schatz, ich bin nicht hier, mein Schatz, glaub doch mir, mein Schatz, daß ich nur bei dir bin und nicht hier bin, mein Schatz. Wenn du so bei mir wärst, wie ich bei dir bin, dann wär ich jetzt nicht hier, sondern bei dir. Aber du bist anderswo. Wo bist du? Jetzt! Wo? Anderswo. Wörter gibt’s, die sollte es nicht geben. Wenn’s anderswo nicht gäbe, wärst du jetzt hier bei mir.
Er verläßt das Zimmer, das Mikro in der Hand, rennt die Treppe hinunter und hinaus und vor zum Taxistand auf dem Odeonsplatz.
Elmar: Harlaching, Hochleite.
Läßt früh halten, geht an den Häusern entlang, bis er mit Hilfe der Taschenlampe die Nummer und den Namen sieht: Elvis Kraile. Eine Villa, Licht im ersten Stock, ein breites Fenster, dicht verhangen. Er sucht kleinere Steine, wirft sie hinauf, sobald er hört, daß er das Fenster getroffen hat, rennt er weg, kehrt zurück, wirft noch einmal, rennt weg, sucht einen Weg durch die Büsche, zur Isar hinab. Dort setzt er sich auf die Uferböschung. Er bemerkt, daß er das Mikro in der Hand hat. Spricht, als höre ihm Ina zu.
Elmar: Das weiß ich selber, daß es nichts bringt, diese Herren umzubringen. Du kannst jederzeit an alles denken. Und das ist schlimmer, als wenn die Herren an alles denken. Du kannst jederzeit alles in deiner Vorstellung ablaufen lassen. Und die ist überscharf und hochgenau. Beispieclass="underline" Der Pseudo-Dostojewskij trat sich auf einen Schuhbendel, der sich gelöst hatte, und wäre, wenn du ihn nicht gehalten hättest, glatt hingefallen. Vor zehn oder zwölf Jahren! Und du weißt noch auf den Zentimeter genau die Körpergröße, der Museumspädagoge einszweiundachtzig, der Pseudo-Dostojewskij einsachtundsiebzig, der Dreier-Propagandist einsvierundsiebzig und der Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Mann einsvierundachtzig. Und die Schuhgrößen hast du auch intus! Mich abschätzig anschauen und sagen: Du hast aber kleine Füße. Ich frage nach den Vorgängern: Keiner unter vierundvierzig.
Es kostete ihn Willenskraft, die jetzt möglichen Witze nicht zu bemühen.
Elmar: Du kannst jedes Geschlechtsverkehrsdetail abrufen und dich davon noch einmal und noch einmal durchströmen lassen. Als ich dich im leichtesten Ton gefragt habe, ob du schon mit einem Mann im Freien geschlafen hast, hattest du sofort präsent: Ja, mit dreien fünfmal in der Sonne. Und wenn ich dich heiraten könnte — sobald du raushättest, wie ich unter dem, was passiert ist, leide, würdest du nichts mehr mitteilen oder alles nur noch in abwiegelnder Verpackung. Ich habe dich gefragt: Wie war es bei dir beim ersten Mal. Und du noch unbesorgt: Das erste Mal war eine Pleite, nachher wurde es viel besser. Und ich, der Gefühlsidiot, der Dünnhäutigkeitsdepp, ich stöhne auf, du lachst, ich sage: Mit dem Satz kann ich nicht leben. Sagen hätte ich sollen: Gott sei Dank, erzähl! Aber du merktest meinen Schmerz und wurdest sofort pflegerisch: Nie so gut wie bei dir. Ich habe dich praktisch verdorben. Ich hätte nie merken lassen dürfen, daß mir, was du hinter dir hast, etwas ausmacht. Locker und lachend hätte ich die Vergangenheiten streifen müssen. Keine noch so peinigende Erörterung kann jetzt deine Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Ich spüre es körperlich, daß in mir die Fähigkeit, dir etwas zu glauben, vernichtet ist. Ein paar Sekunden lang habe ich gehofft, du könntest rücksichtslos sein. Bist du nicht. Du bist pflegerisch. Wie alle. Die ganze Welt ein verlogenes Pflegegelände. Dann die Sprüche: Man kann doch Menschen nicht besitzen. Wörter, Wörter, Wörter. Man kann alles so sagen, daß es paßt. Bei manchen Sätzen sagst du dazu: Beim Leben meiner Mutter! Ja merkst du denn nicht, daß dadurch die Unglaubwürdigkeit aller anderen Sätze geradezu demonstriert wird. Und Schwüre! Lächerlich. Als ich auf einen deiner Schwursätze sagte: Warum soll man Schwüre halten, hast du gesagt: Man muß nicht fragen, warum, man hält sie. Oder hält sie nicht, habe ich gesagt. Nur wenn du nicht mehr bist, lebt, was passiert ist, nicht mehr. Du hast, was du zu mir gesagt hast, nicht nur hundertmal zu anderen gesagt, du wirst es auch noch viele hundertmal zu anderen sagen, das halt ich nicht aus. Könntest du morgen, bitte, gleich über mich herfallen, sonst geh ich dir einfach an die Wäsche. Deine Sätze! Nur wenn du nicht mehr bist, passiert das nicht mehr.
Er wirft das Mikro in die Isar. Er wirft mit aller Kraft. Jetzt erst ist er allein.
Elmar, murmelt: Aufstehen. Sie anrufen. Sie nicht erreichen. Deiner Schwäche einen Pullover stricken.
XIV.
Das Schlußbild der letzten Szene ist stehengeblieben. Im Vorführraum der Firma sitzen Joni, Arthur, Strabanzer und Rudi-Rudij. Jonis und Arthurs Hände lösen sich voneinander, sobald das Licht angeht.
Strabanzer: Und jetzt, Genie?
Rudi-Rudij: Schreibt Ina den Brief. Soll ich ihn vorlesen?
Strabanzer sieht, daß Joni und Arthur auch dafür sind. Er nickt.
Rudi-Rudij geht nach vorne, vor die Bühne mit Leinwand. Er liest nicht nur vor, er spielt den Text, als wäre es kein Brief, sondern ein Monolog von Ina, gesprochen für Elmar.
Rudi-Rudij: Lieber Elmar, ich habe bei dir gelernt, daß ich nicht pflegerisch mit dir, mit uns umgehen soll, sondern wahrhaftig beziehungsweise rücksichtslos. Als ich sagte: Dein zerfurchtes Gesicht, hast du wütend unterbrochen und befohlen: Deine Faltenvisage. Die so faltenreich gar nicht ist. Zerfurcht sei Verschönerungsvereinsstil. Wenn ich meine augenblickliche Situation bedenke, kann ich für diesen Rat, für diese Lizenz nur dankbar sein. Wenn ich mir vorstelle, wieviel Sätze ich sonst halbfertig und viertelwahr in der Luft hängenlassen müßte, um dir auf einem Umweg, gepflastert mit Lügen, eine einzige Achtelwahrheit anzudienen, hoffend, du quältest dich damit dann selbst durch zu einer Fastwahrheit, die heißt: Ich habe mich verliebt. Ich bin verliebt. Es tut mir leid. Das schon. Aber wer bin ich? Ich kenne mich ja selber nicht mehr. Die, die ich durch Arthur zu werden anfange, ist mir selber neu. Bestürzend neu, beglückend neu. Sie ist zum Beispiel, um an ein Thema anzuknüpfen, Nichtraucherin. Rücksichtslose Nichtraucherin. Nur weil du Rücksichtslosigkeit zu einem unanzweifelbaren Wert gemacht hast und ich dir da aus ganzem Herzen folge, bin ich imstande, mich dir so zu zeigen, wie ich mich jetzt fühle. Und mehr als ein Trost ist mir die Gewißheit, daß das, was von uns nicht ausgesprochen wurde, unser Fundament überhaupt war, unsere Generalbedingung sozusagen: Du hast sicher auch keine Sekunde lang geglaubt, wir, du und ich, könnten es unter den uns unabänderlich bedingenden Umständen zu mehr bringen als zu einem Austausch gefühlter und gekonnter Gesten. Und sind doch beide gewesen wie neu, jeder hervorgebracht vom anderen. Jeder hat dem anderen die Routine aufgerauht, dann poliert. Die Lyrikerin hat durch dich das Licht der Welt erblickt. Dafür danke ich dir immer. Ich habe unseren Glanz genossen, lieber Elmar. Du hast mich glänzen lassen. So war es eine gute Zeit. Ganz herzlich grüßt dich Ina.