Da der frischverschneite Wintertag jetzt sein Sonnenlicht auch in die Faulhaber-Straße strahlte, paßte diese scharfe Schwarzweißkleidung unheimlich gut.
Karl von Kahn mußte sagen: Ich hoffe, Sie sind nicht jeden Tag genauso gekleidet, wie es das Klimatheater empfiehlt.
Babenberg ließ den gerade noch festen kleinen Mund richtig zerfließen und sagte: Gefallsucht ist keine tödliche Krankheit.
Babenberg drückte mit einem viel kleineren Mund soviel aus wie Joni mit ihrem Übermund. Was Babenberg hatte, hätte man Kußmäulchen nennen können. Das durfte Karl nicht sagen. Also doch Zensur. Dieser kleine Mund war nie wirklich offen. Eigentlich sprach Babenberg mit geschlossenem Mund. Dieser Mund war reine Dispizlin. Winzige Verschiebungen produzierten viel Ausdruck. Babenberg sprach nie laut. Fast immer zu leise. Selbstherrlich leise, dachte Karl von Kahn. Und er hatte Grund dazu. Er drehte den Kopf ein wenig, daß das rechte Ohr bevorzugt wurde.
Wie immer, wenn einer schätzungsweise fünf bis zehn Jahre jünger war als Karl von Kahn, ließ er den zuerst fünf, dann sieben Jahre jünger sein. Dann zehn. Das war seine Lebensmathematik.
Markus Luzius Babenberg war mindestens einssechsundachtzig, Schuhgröße sicher sechsundvierzig. Karl nahm unwillkürlich das Joni-Maß. Von den zarten Händen würde Joni zwei Finger bestellen. Eine enge Haube blonder, grau durchmischter Haare. Helens Mischung. Weil Babenberg, solange Frau Lenneweit den Tee und die italienischen Leckereien servierte, nichts sagte, mußte Karl von Kahn etwas sagen, weil nicht der Eindruck entstehen durfte, in Gegenwart von Angestellten sage man hier besser nichts. Karl von Kahn sagte also — und er wußte und genoß es, daß Frau Lenneweit diesen Text kannte —: Ihnen gegenüber kann ich aussprechen, was ich im gewöhnlichen Kundengespräch strikt vermeide. Benjamin Graham, der an der Columbia lehrte, dessen berühmtester Schüler Warren Buffett ist, von dem Sie ja sicher gehört haben …
Never heard, sagte Herr Babenberg.
Na ja, sagte Karl von Kahn jetzt sanft triumphierend, nämlich über die Kulturfraktion, Warren Buffett ist unter den Wirtschaftsmenschen des 20. Jahrhunderts das, was Picasso unter den Malern ist. Und er ist mein Vorbild, mein Hausheiliger, meine Herzensikone, er ist mir, was Voltaire für unseren Freund Diego ist. Eine Aktie von Berkshire Hathaway, so heißt seine Firma in Omaha, Nebraska, das dürfen Sie zur Kenntnis nehmen, eine Aktie dieser Firma kostet zur Zeit 85 000 Dollar. Ich habe vor zehn Jahren, als sie noch bei fünfunddreißig standen, zwei davon gekauft. Am 30. 11. 1987 kostete eine Hathaway-Aktie 2000 Dollar. Benjamin Graham also, Warren Buffetts Lehrer, hat, ich glaube 1934, geschrieben: Das größte Problem der Anleger — und ihr schlimmster Feind — sind sicher sie selbst. Ich biete mich an, in diesem Kampf auf Ihrer Seite zu kämpfen. Oder, um zivil zu bleiben: auf Ihrer Seite zu sein.
Was er nicht sagte, war, daß das seine Routine-Eröffnung war. Allerdings nur bei Kunden, bei denen er Ansprüche vermuten durfte. Und größere Summen.
Das war der Moment, in dem das Professionelle, wenn irgend möglich, mit einer privaten Farbe versehen werden mußte. Er habe, sagte er, Herrn Babenbergs Wortmeldungen im Sängersaal immer sehr genossen. Daß in Wortmeldungen eine Kritik an Diegos Monologen enthalten sein konnte, erkannte Babenberg und machte gleich weiter.
Erst vorgestern habe er im Sängersaal wirklich fast die Geduld verloren, leider sei Herr von Kahn verhindert gewesen, aber vorgestern habe Diego von den Anwesenden praktisch verlangt, auf Candide wie auf die Bibel zu schwören. Gut, Mitternacht war vorbei, alle, die noch da waren, hätten allenfalls auf den La Tâche geschworen, den Diego ausgeschenkt hatte, tatsächlich der reichste Burgunder, der im Sängersaal je in die Gläser kam. Dem Candide-Schwur waren Diego-Arien über den Zerfall des Marktes vorausgegangen, besonders des Marktes für das einzig Wertvolle, nämlich das, was er anbietet: alte Kostbarkeiten. Einige hatten noch gar nicht mitgekriegt, daß er die Brienner Straße verlassen hat, zurückgekehrt ist in die Theresienstraße.
Jetzt mußte Karl von Kahn doch dazwischensagen, daß ihm das neu sei.
Babenberg staunte, gab aber zu, daß er aus einem Nebensatz, mit dem Diego Herrn von Kahns Abwesenheit mehr verrätselt als erklärt hatte, auf irgendwelche Beziehungsveränderungen geschlossen habe. Diegos Bewegungsaufwand sei allerdings so übermäßig gewesen wie immer. Die edle Chaiselongue wird da zum Trampolin, wenn er seine siebzehn Haltungen exekutiert, vom Schlangenbeschwörer bis zum Parlamentspräsidenten. Mit dunklem Humor und heiterer Verachtung gedachte er der Kunden, die seit neuestem glaubten, ohne ihn auszukommen. Es waren die bei ihm üblichen Handelsdramen, bloß gingen sie jetzt alle eher schlecht aus, führten zu keinem Kauf. Toutes les ventes de l’hiver sind im Eimer. Le bilan de la saison: katastrophal. Beispiel Leonie von Beulwitzen, die nicht da war. Für deren aus ihrer Lebenserfahrung stammende Vorliebe, nämlich Landschaftliches ohne Menschen, hatte er ein schlechterdings fabelhaftes Bild gefunden, von Courbet die Grotte humide. Diese sich so sinnlich ins Dunkle und Dunkelste biegende Höhle sei für Leonie von Beulwitzens Sammlung das Programmbild überhaupt. Aber nein, die Magistra Leonie investiere jetzt alles in ökologische Spekulation, wohl bekomm’s. Und es wurde La Tâche auf Leonie von Beulwitzens simples Glück getrunken. Als Konversationsgewürz wurde hinzugefügt, die Magistra, die ja kaum sechzig sei, sei gerade dabei, wieder einmal zu heiraten, um sich wieder scheiden lassen zu können. Dann der Sprung zu Voltaire. Bitte, dachte man, warum nicht. Aber dann Candide. Und nur noch Candide. Eine Bekehrungsgeschichte mit Candide. Erst jetzt gelesen. Erst jetzt sei er durch Erfahrung reif geworden für dieses Buch der Bücher. Ja, weniger sei es nicht. Er habe bisher vorbeigelebt an der Welt. Dann, plötzlich, zerfällt das Verklärungskonstrukt, das er lebenslänglich gebaut und gepflegt hat. Plötzlich zeigt sich die Welt, wie sie ist. Und da trifft er auf Candide: das Vernichtungsevangelium schlechthin. Dann schwärmte dieser erfahrene Mensch von den Bilderbuchorgien des 18. Jahrhunderts. Und die Herumsitzenden sollten nicht nur zustimmen, sondern durch eigene Erfahrung bestätigen, daß Voltaires Schauerskizzen das Wahrste seien, was man je über diese Welt geschrieben habe. Da sei ihm, Babenberg, der Geduldsfaden gerissen. Vielleicht war’s auch der vortreffliche Burgunder. Wenn man gezwungen werde, sich Geschichtchen über Fabergés Rolle in der Geschichte der Romanows anzuhören, wisse man zwar auch nicht in jedem Augenblick, warum man sich das anhören solle, aber dem Fabergé-Reiz verfalle man dann doch ganz gern. Daß man aber diese Vereidigung auf das langweiligste Voltaire-Buch mitmachen soll, geht zu weit. Jeder hat natürlich einmal Candide gelesen. Diesen sinnlosen Kulturzwang gibt es eben. Und die krisengeschüttelte Diego-Situation bringt vielleicht die insgeheim längst erwünschte Sekunde, in der man es diesem Langweiler heimzahlen kann. Tatsächlich ist Candide nichts als ein aufgedonnerter Schreckensschwulst, ein ganz unattraktives Grausamkeitsprogramm. Nichts zu Herzen oder auf die Nerven Gehendes. Die krassen Schicksale der damaligen Trivialliteratur werden einer edlen Lehrtendenz dienstbar gemacht. Eine einzige Ausnahme. Und die zeigt, wie öde der Rest ist. Die Begegnung mit dem Neger im Hafen in Surinam. Die linke Hand und das rechte Bein fehlen dem. Und wir erfahren, welcher Kolonialismus daran schuld ist. Das hat Biß. Hat humane Wucht. Alles andere ist Oper ohne Musik. Ach, unser Diego! Aber jetzt kommt es erst. Kruzitürken, sagt Diego, als ich meine Candide-Schelte beende, als wolle er sagen: Das gibt es doch nicht, mir meinen Voltaire so zuzurichten. Und hat kaum Kruzitürken gesagt, da fährt ihm Gundi dazwischen. Sie sitzt wie immer neuerdings im Fauteuil à la Sirène, aber sie sitzt da ja nicht, sie ist ein Teil, und nicht der schlechteste, dieses Fauteuils. Spitz-scharf-jäh ruft sie: Diego! Der hört den Ton, weiß noch nicht, wodurch er sich den zugezogen hat, schaut also nur ergeben zu ihr hin und kriegt zu hören: Du weißt, daß ich fluchende Männer so gräßlich finde wie Männer, die ihre Muskeln für Geld zeigen. Das war nun wieder meine Sekunde. Es hätte meine Selbstbeherrschungskräfte überfordert, die so dazwischenfahrende Gundi nicht zu belehren, daß Kruzitürken alles andere als ein Fluch ist. Mit Quellenangabe: Ein Cousin in Wien hat ein Buch über die Belagerungen durch die Türken geschrieben, darin berichtet er, daß Wien sowohl von den Kurruzzen als auch von den Türken belagert worden sei. Aus dieser Kriegserfahrung mit Kurruzzen und Türken stamme der Ausruf. Gundi wollte überhaupt nicht hören, daß sie sich eingemischt hatte ohne Grund. Sie stand auf und ging. Keiner wagte, sie aufzuhalten. Am fassungslosesten war Diego. Sie flieht, sagte er strafend zu mir hin. Ich wollte noch um zivilere Wörter bitten, aber er war und blieb fassungslos. Sie flieht, sagte er noch einmal. Sie hat doch recht. In diesem Raum, in dem alles vermieden ist, was nicht beanspruchen darf, schön zu sein, da fluche ich wie eine Trachtenbedienung auf dem Oktoberfest. Also blieb ihr nur die Flucht. Diego ließ uns jetzt spüren, daß die dreißigtausend Erdbebentoten von Lissabon, die bei Voltaire den Candide ausgelöst hatten, und Gundis Flucht zwei gleichermaßen weltbelehrende Ereignisse sind.