Herr von Kahn überreichte Herrn Babenberg das Exemplar der Kunden-Post, aus dem er vorgelesen hatte.
Babenberg: Eine hübsche Auslegung haben Sie sich da zurechtgemacht.
Karl von Kahn: Ich bin Matthäus gefolgt, Wort für Wort. Auch unsere Gescheitesten haben nur so simpel denken können: Einer leiht sich Geld, gibt es aus und soll mehr zurückzahlen, als er sich geliehen hat, pfui! Aber schon bei Matthäus wird Geld nicht ausgegeben, sondern angelegt. Einhundert Prozent Gewinn. Er habe gerade in Genua seinen italienischen Geschäftsfreund, der arbeite bei der ehrwürdigen Carige, gefragt, wie Zinseszins auf italienisch heiße. Zins, italienisch: l’interesse, wie kann daraus Zinseszins werden? Und siehe da, drei Wörter, sagt ihm Federico, gibt es für Zinseszins im Italienischen, wo wir ja das Geldwesen gelernt haben: usura, anatocismo und l’interesse composto. Usura ist dann die der Moral dienende Variante, Wucherzins. Anatocismo komme als griechisches Importwort schon bei Cicero vor: Anatocismo anniversario stehe bei Cicero. Wenn ich meinen schlanken Federico richtig verstanden habe, ist tókos der Zins im Griechischen und anatokós wäre der Zins auf den Zins. Das war also immer schon so. Aber jetzt wie noch nie. Und das wird Ihnen in Genua erklärt, während Sie an der Oper vorbeischlendern, wo die Komponistenfahnen wehen, die schönsten Musiknamen überhaupt, hinüber zum Matteotti-Platz, an Fassaden entlang, an denen sich die Augen erholen können von dem, was bei uns aus dergleichen wurde. Er ist noch nie von Genua zurückgeflogen nach München. Hingeflogen immer. Zurück nie. Wegen Turin. Immer mit dem Zug noch nach Turin. Turin, die städtisch gebändigte Pracht. Weil die Palazzi so fensterreich sind, sind sie, obwohl sie so groß wie schön sind, Stadthäuser. Sein Lieblingsbau unter diesen Prachtsbauten, der Palazzo Carignano. Gebaut von Guarino Guarini. Er hat große, gewaltige Gebäude bauen müssen, hat aber offenbar keine leeren Flächen ertragen, eine bloße Wand, eine nackte Wand muß für ihn der reine Schrecken gewesen sein, darum Fenster an Fenster, und oft genug werden die Fenster noch überworfen mit steinernen Schals, und überall wuchert der Stein in ein Muster, wie unsereins kritzelt, wenn er kein leeres Papier aushält. Ich muß Ihnen jetzt, daß Sie ihn noch ein bißchen ernst nehmen können, die Wörter aufsagen, die aufgeboten werden, um Guarino Guarini vorstellbar zu machen: eccentricità, eccezione, eccesso, singolarità, estrosità, bizzarria, cappriccio, stravaganza, esagerazione, kurz una superbissima vista. Das Wort Fassade hat bei uns mit Recht keinen ungetrübten Ruf. Unsere Fenster sind leblose Öffnungen in zweckdienlicher Verteilung. In Turin sind die Fenster die Fassade, diese mit steinernen Schals überworfenen Fenster. Ohne diese Schals frören sie. Mit ihnen träumen sie. Da schauen Sie bei mir hinaus. Die Vereinsbank-Fassade. Eine Fassadenvisitenkarte nach dem Prinzip Zuviel ist nicht zuviel. War ja auch hundert Jahre nach dem Turiner Baurausch. Alle Paläste, Kirchen, Kastelle, 1640 bis 1680, in nicht mehr als vierzig Jahren gebaut. Liberare gli scenari. Da darf’s einem doch ganz anders werden. Daß er jetzt so ins Schöne abgeschweift ist, überrascht ihn mindestens so wie wahrscheinlich auch Herrn Babenberg. Und da ihm am Anfang dieses Gesprächs danach war, möglichst wenig Zensur auszuüben über sich selbst, ist ihm diese Kurve ins Großitalienische passiert. Er entschuldigt sich nicht. Sagt lieber dazu, daß das Motiv dieser Abweichung gewesen sein könnte, in Markus Luzius Babenberg eine Neugier auf Turin zu wecken und sich dann gar als Reiseführer anzubieten. So etwas muß nicht, darf aber durchaus folgenlos bleiben. Wenn Geldvermehren nicht zu einer Pflicht geworden wäre, zu einer Pflicht seinen Kunden gegenüber, wäre er längst nach Turin gezogen. Zurück zum interesse composto …
Momentino, rief Herr Babenberg, sprang auf und ging hin und her, als wolle er vermeiden, unbeherrscht zu reagieren. Dafür, daß er so groß und langbeinig war, machte er recht kleine Schritte. Er bremste sich. Also bitte, sagte er dann und sagte es nicht zu Karl von Kahn hin, sondern in den Raum hinein, also bitte, Pathos darf sein. Jeder ist auf einer Wallfahrt zu einem, zu seinem Heiligen. Unser Diego zu seinem gelenkigen Voltaire, Sie zu Ihrem findigen Warren Buffett und Markus Luzius Babenberg ist, solange er noch beten konnte, Friedrich Nietzsche nachgereist, hat fromm alle seine Adressen abgeklappert, die Türklinken in der Hand behalten, weil sie aussahen, als seien sie’s noch. Ihn berührt, was er berührt. Er ist ein Berührer. Er läßt jedem seinen Hausheiligen. Für ihn war möglich nur Dostojewskij oder Nietzsche. Die Sprache hat’s entschieden. Aber er war nicht in Turin. Glücksfund, hat Nietzsche Turin genannt. Er, Babenberg, hat die letzte Adresse, Via Carlo Alberto 6, dritter Stock, nicht geschafft, und von da aus hat Nietzsche den Palazzo Carignano gesehen, und er, Markus Luzius Babenberg, hat es nicht geschafft, die Piazza Carlo Alberto zu betreten, das Pflaster der Katastrophe, das Nietzsche-Golgatha, der Gekreuzigte war ja dann er, aber jetzt …
Herr Babenberg wandte sich Karl von Kahn zu.
… daß Herr von Kahn ihm Turin offeriere, sei eine biographische Pointe. Vielleicht könnten sie einander führen. Zurück zu usura, anatocismo und interesse composto.
Das, sagte Karl von Kahn, seien eben die Maßnahmen, den Geldwert dem gesellschaftlich verfügten Verfall zu entziehen. Seine Geschäftsphilosophie sei empfindlich für jede Schreckensmeldung. Dann aber, je krasser die Meldung, desto spürbarer die Selbstbetörungskraft seiner Philosophie. Was ihm Angst einjagen soll, beflügelt ihn. Immer wenn er zusammenbrechen sollte, blüht er auf.
Dann geht es Ihnen wie den Erbsenblattläusen, sagte Herr Babenberg. Die schütten in Gefahrensituationen einen Geruchsstoff aus, der ihrem Nachwuchs Flügel verleiht. Wenn die Gefahren zum Dauerzustand werden wollen, dann schlüpfen aus den Eiern mehr und mehr Blattläuse, die schon mit Flügeln ausgerüstet sind. Ich hoffe, die Blattlaus-Parallele ist Ihnen nicht unangenehm.
Karl von Kahn: Für mich ist es immer das Wichtigste, daß ich nicht der einzige bin, der so ist, wie ich bin. Ich bin Ihnen dankbar für das Blattlaus-Beispiel. Je mehr Natur in einem Vorgang, desto weniger Willkür. In den Ahndungen des Marktes, die ich nicht Bestrafungen nenne, ist weniger Willkür enthalten als in allen anderen von Menschen produzierten Systemen. Der Markt hat Wirkungen, reagiert auf seine Wirkungen, hat dadurch wieder Wirkungen, auf die er wieder reagiert. So viele Kräfte der Vernunft und Unvernunft, der Hoffnung, der Angst, die zusammenwirken, auch im Gegeneinander noch zusammenwirken und im unbeherrschbaren Wechsel Hochstimmung und Panik produzieren, ein Prozeß, in dem nichts ohne Folge bleibt, aber keine Folge vorhersehbar und schon gar nicht determinierbar ist — und wenn, dann nur im zur pathologischen Anekdote abgeschnürten Extrareservat — , da darf man von einem Vorgang sprechen, der zur Natur gehört oder doch dahin tendiert. Die Wetterereignisse sind leichter zu beobachten und zu berechnen als die des Marktes, aber genausoschwer beeinflußbar. Die Moral schützt vor Verständnis. Sie konstruiert das Gute nur, um das Böse zu schaffen. Unter dem Vorwand, es zu beseitigen. Interessiert ist die Moral nur am Bösen. Der immer lebensfeindlichen Moral präsentiere ich die lebenspendende Kraft des Kontos. Sie prüfen es nicht jeden Tag, aber jeden fünften Tag schon und sehen, wie es anschwillt und anschwillt, nicht explodiert, sondern anschwillt. Sie spüren, daß Sie einen Naturvorgang erleben. Das ist Wachstum. Das geht auf Sie über, Sie wachsen mit, egal, wie alt Sie sind, das schwöre ich Ihnen. Und wenn es schwindet und schwindet, wenn es Sie leiden läßt, dann erleben Sie das auch als Leben. Verluste werden, sagt die idiotische Statistik, dreimal so stark erlebt wie Gewinne. Ja, da sage ich doch: Her mit den Verlusten. Aber es gibt natürlich keinen Gewinn, also auch keinen Verlust. Es gibt die Bewegung. Die Illusion. Ist gleich: das Leben. Übrigens, wenn Sie einmal in Ihren Kreisen Legitimierhilfe brauchen, Albert Einstein, die Zitier-Ikone schlechthin, hat gesagt, der Zinseszins sei die größte Erfindung des menschlichen Geistes.