Im Briefkasten ein Brief, großes Format, Absender: Joni Jetter. Das paßt. Er hatte sich für diesen Abend vorgenommen, die gesammelte Berichterstattung über das Othello-Projekt zu lesen. Im Haus mied er alle Räume, die er zusammen mit Helen bewohnt hatte. Er ging immer sofort hinauf in sein Zimmer, schlief dort, aß dort, was er mitgebracht hatte. Das Haus wirkte, seit Helen fort war, hohl. Als sie noch dagewesen war, aber gerade nicht im Haus, hatte das Haus nicht hohl gewirkt. Er würde Helen noch an diesem Abend schreiben. Sollte sie herausfinden, was möglich war.
Zuerst Jonis DIN-A4-Brief. Er bemühte sich, Hast zu vermeiden. Und las.
Lieber Karl,
da Du der erste warst, der mich als Psalmistin erlebte, vielleicht sogar gelten ließ, wirst Du von jetzt an immer mit dem Neuesten bekannt gemacht werden. Es sei denn, Du winkst ab.
Der Film ist prächtig angelaufen, Du wirst Geld vermehren. Wie es sich gehört.
Es grüßt Dich viele Male
Deine Joni
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Gäbe es dich, könnt ich nicht beten zu dir, Gott,
ein Götze wärst du, der Himmel ein Kaufhaus,
bewacht von keuschen Kameras.
Vor Angst bin ich weich, verehre Unbekümmerte,
denen die Haare wachsen wie wild und können sich
nicht wehren gegen die Unabhängigkeit
tanzlustiger Glieder. In mir verborgen leb ich.
Ich ahne mich, aber ohne euch weiß ich mich nicht.
Bereit zu sein zehrt.
Angenehm ist es bei den Verzweifelten,
sie kennen keine Gerechtigkeit.
Er saß mit geschlossenen Augen. Er sah die bis zu jedem Horizont mit dunklem Reisig zugedeckte Welt. Er erzwang eine haltlose Nichtempfindung.
Bitte, die Zeitungen jetzt.
Karl von Kahn hatte alle Berichte, Interviews und Kritiken, die ihm von Bocca di Leone zugeschickt worden waren, aufgeklebt. Daß die Uraufführung bei der Berlinale gut angekommen ist, hatte er mitgekriegt. Strabanzer war als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet worden. Er hatte nicht nur Regie geführt, sondern auch, als Rodrigo, den Regisseur des Films gespielt. Joni war preislos geblieben. Aber in den zur Unterhaltung gemachten Zeitungen war sie eine Sensationsfigur. Wilde Bilder überall. Die schaute er so lange an, bis er sicher war, daß es sich um Papier handelte. Es tat weh, daß es, als Joni in Berlin gewesen war, dort heftig geschneit hatte. Und die Sonne hatte geschienen. Auf das frischverschneite Berlin. Joni und Schnee. Das spürte er als Schmerz. Wie lebendig sie ist im Schnee. Als er hier vor ein paar Wochen die frischverschneite Osterwaldstraße erlebt hatte, war sein erster Gedanke: Joni im Schnee. Und der grell alles ausstellenden Sonne hatte er leise zugerufen: Sonne, schein doch nicht so.
Er las jetzt alles Wort für Wort und setzte aus den vielen Artikeln den Film zusammen, den er, wie er sah, allenfalls in Umrissen kannte. Am Leben entlang, aber das Leben durch die Kunst steigern. Daran dachte er natürlich, als er las, daß Ina Kosellek ermordet wird. Erwürgt wird sie. Verhaftet wird ziemlich schnell ihr Geliebter Elmar von Egg. Der hat sich verdächtig gemacht durch rabiate Briefe an frühere Liebhaber Inas. Die waren aus Inas Notizbüchern sehr schnell gefunden worden. Und durch sie die Briefe, die sie von Elmar von Egg bekommen hatten, samt Schweizer Armeemesser. Für die Tatnacht hatte Elmar kein Alibi. Er war ja von seiner Frau verlassen worden und wohnte allein. Er versuchte auch gar nicht, seine Unschuld zu beweisen. Der Tod Inas hatte ihn so getroffen, daß für ihn die Frage, ob er es gewesen oder wer es gewesen sei, bedeutungslos war. Die Verhöre ließ er über sich ergehen, saß apathisch da und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Der einzige sinnvolle Satz, der ihm zu entlocken war, hieß: Das hätte nicht geschehen dürfen. Den Satz allerdings sagte er immer wieder. Die Tat selber stritt er mit keinem Wort ab. Sie hätte nur nicht geschehen dürfen. Er wollte von keinem Anwalt beraten oder vertreten werden. Daß Ina tot war, machte alles, was jetzt noch geschehen konnte, sinnlos. Dann fällt Herr Elvis Kraile auf. Er entschuldigt sich dafür, daß er sich nicht sofort nach der Tat gestellt hat. Daß dieser Kunsthändler als Täter auftritt, findet er, geht nicht. Das hat Ina nicht verdient, von diesem fetten Wichtigtuer umgebracht worden zu sein. Elvis Kraile ist ein hagerer Jazzpianist, der nur noch in Hotelbars beschäftigt wird. Durch Mißerfolg überempfindlich geworden. Als Ina ihn einmal bei sich übernachten ließ, wollte er nicht mehr gehen. Er rief seine Frau an, sagte ihr, daß er jetzt endlich wisse, wohin er gehöre. Seine Frau war froh, ihn loszusein. Als Ina ihn hinausdrängen wollte, erwürgte er sie und blieb auf einer Parkbank sitzen, bis er den Leuten auffiel. Sie riefen die Polizei. Er legte sein Geständnis ab.
Zwei Täter, jeder motiviert genug für die schreckliche Tat. Der Staatsanwalt versucht fleißig, diese Situation entscheidbar zu machen. Aber der Kommissar ermittelt weiter, weil er einen Täter braucht, nicht zwei. Seine Grundüberzeugung: Je weniger eine Tat im Affekt begangen wird, desto unglücklicher muß der Täter sein. Nur unglückliche Menschen sind zu einer solchen Tat imstande. Also sucht er den Unglücklichsten in dem Beziehungsgeflecht, dessen Zentrum Ina Kosellek war. Der Unglücklichste von allen, findet er heraus, ist Rodrigo, der Regisseur. Aber ihm ist nichts zu beweisen. In den Verhören macht er sich über den Kommissar lustig, verhöhnt ihn regelrecht. Der Kommissar habe wohl zu viele schlechte Kriminalfilme angeschaut. Selbst wenn er es getan hätte, sagt er dem Kommissar ins Gesicht, Sie, Herr Kommissar, überführen allenfalls sich selbst, nämlich der berufsbedingten Hirnschrumpfung. Der Kommissar bleibt gelassen. Dann bringt der Kommissar einen Handschuh mit zum Verhör. Der Regisseur stutzt. In den Haaren der Toten ist ein Faden gefunden worden, der aus diesem Handschuh stammt, und es ist Rodrigos Handschuh. Als er erfährt, daß sein engster und einziger Freund diesen Handschuh geliefert hat, geht er ins Nebenzimmer und erschießt sich.
Fast in jedem Artikel wurde dieser Rodrigo anders aufgefaßt, anders empfunden. Übereinstimmung herrschte darüber, daß er unglücklich war, weil er in einer Gesellschaft lebte, in der Liebe ohne Sexualität nichts galt. Er liebte offenbar Ina, seit er sie zum ersten Mal bei der Beerdigung eines Schauspielers gesehen hatte. Er erlebte eine Liebesgeschichte Inas nach der anderen. Als Ausgeschlossener. Nicht in Frage Kommender. Er gab den Homosexuellen, um in irgendeiner Hinsicht in Frage zu kommen. Wie das enden mußte, sah er voraus. Das war dann die Tat.
In der letzten Szene sitzen die, die den Film gemacht haben, vor der Leinwand. Der Film ist gelaufen. Die Journalisten haben gefragt. Theodor Strabanzer steht auf und sagt: Hat mich gefreut, Verständniswilligen ein paar Sätze zu sagen über unser geniales Machwerk. Adieu. Und eilt hinaus. Rennt durch die Stadt. Die Flucht vor den Zeitungen.
Der Film wird umstritten genannt, ist aber sofort ein Publikumserfolg.
Karl von Kahn würde gut verdienen.
4
Er mußte Helen schreiben. Ihr in einem Brief andeuten, was gewesen ist. Gewesen war.
Er konnte dann nicht immer ich sagen. Wenn er von sich in der dritten Person schrieb, schien es leichter, genau zu sein. Helen würde das verstehen. Sie schrieb ihre Studien, in denen sie ihre Erfahrung spüren ließ, immer ohne ich zu sagen.
Bis zum Wochenende machte er sich Notizen, dann schrieb er:
Liebe Helen,