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heute morgen erwachte ich durch zwei Schläge ins Gesicht, die ich mir selber gegeben hatte. Was für ein Traum zu dieser Selbstbestrafung führte, war nicht mehr auffindbar. Vorschnelle Bedeutungshubereien wehre ich ab. Ich bin Dein Traumbehandlungsschüler. Deshalb bleibt der Traum unzerstört in mir präsent. Zwei Schläge von mir, mir ins Gesicht. Damit will ich nicht angeben, mich nicht einschmeicheln bei Dir. Ich habe bei Dir auch gelernt, nicht mit einem Traum anzugeben, aber zwölf andere Träume, die man nicht gestehen kann, unerwähnt zu lassen. Ich gestehe also, daß ich die meisten Träume, von denen ich zur Zeit heimgesucht werde, Dir nicht sagen kann. Das wage ich jetzt zu gestehen, weil es der Programmpunkt fünf ist in Deinem Vortrag Warum darf der Traum Klartext der Ehe genannt werden. Wenn ich Dir einen solchen Traum erzählen könnte, wäre bewiesen, daß ich als Träumender unmöglich bin. Nicht nur als Träumender, wirst Du sagen.

Du weißt: Ich bin ein Simulant. Ich simuliere Leben. Immer schon. Dieser Satz käme mir glaubhafter vor, wenn er hieße: Er ist ein Simulant. Er simuliert Leben.

Laß mich dabei bleiben. Ich will für Dich einen Text entwerfen, der nicht mehr vom Verschweigen lebt. Laß es mich, laß es ihn probieren.

Er hat Dich nie angelogen. Was er Dir gesagt hat, war immer wahr. Schon dadurch, daß er es gesagt hat. Und in dem Augenblick, in dem er es Dir gesagt hat. Aber er hat Dir vieles nicht gesagt. Ist Verschweigen gleich Lügen? Das Verschwiegene hat zugenommen. Du glaubst, Dir sei jetzt alles bekannt. Die Joni-Katastrophe.

Wie der Versuch, Dir, der Erforscherin des Verschwiegenen, vom Verschwiegenen einen Eindruck zu verschaffen, ausgeht, ist noch nicht vorstellbar. Der Versuch muß blindlings unternommen werden. Taub gegen sich selber. Taub gegen die immer alles verhindern wollende Welt. Taub gegen jede Art Dreinrede. Und sei sie die edelste, feinste, liebenswürdigste. Du siehst, er tanzt vor Dir das Angstballett, das er immer getanzt hat, wenn er Dich hat verschonen wollen vor seinem So- und Sosein. Mehr als Andeutungen wird er auch diesmal nicht aus sich herausbringen. Verzeih, wenn es Dir zuwenig ist oder zuviel. Wisse aber, daß er Dich liebt. Er hat Grund dazu. Und wenn Du, seine Andeutungen lesend, vergißt, daß er Dich liebt, dann … dann sind wir am Ende. Keinesfalls darf er sich dadurch schon vorweg einschüchtern lassen, obwohl eine schlimmere Wirkung als die, daß Du vergißt, daß er Dich liebt, nicht denkbar ist. Trotzdem macht er diesen Versuch. Diesen Versuch einer Selbstpreisgabe. Es werden ohnehin nur Andeutungen sein. Das darf sogar als Titel dienen: NUR ANDEUTUNGEN.

Was bist Du für ein Mensch, hast Du geschrieben. Dann hast Du ihm in ausführlicher Rede entzogen, was ihn sich selber noch erträglich machen könnte. Du hast die Deutungshoheit an Dich gerissen. Du bist die Legitimierinstanz. Er ist alles nicht, was er sein soll. Was man sein soll. Er dürfte es gar nicht aushalten, so zu sein, wie er ist. Er müßte sich fügen oder sich umbringen. Rechtfertigen entfällt. Das weiß er aus jedem Zusammenhang, den er je gestreift hat. Wer sich rechtfertigt, klagt sich an. Soll er sich anklagen? Er zieht es vor, sich in der über ihn ausgeschütteten Illegitimität einzurichten. Es ist entspannend, ein unmöglicher Mensch zu sein.

Was Beziehung war, ist vernichtet. Von ihm kann nichts mehr erwartet werden. Daß das doch so bliebe.

Wenn ein anderer seine Morallosigkeit praktiziert, wird er ihm unsympathisch. Er selber bleibt sich sympathisch. Er bittet Dich, anzuerkennen, daß er nicht amoralisch ist, nur unmoralisch. Das macht ihn klein. Auch das soll ihm recht sein. Was allgemein gilt, ist anerkennenswert. Müßte nicht öfter dazu gesagt werden, daß sich niemand an das hält, was allgemein gilt? Jeder muß den Anschein erwecken, er lebe nach dem, was allgemein gilt. Wer das nicht schafft, ist ein unmöglicher Mensch.

Nehmen wir Herrn A. Er hat gerade mit Frau B. geschlafen, wie man miteinander schläft, wenn man lange voneinander getrennt war. Frau B. ist von ihrem beruflichen Alltag so erschöpft, daß sie nach diesem Miteinanderschlafen sofort einschläft. Herr A. geht in Frau B.’s Arbeitszimmer hinüber, die Tür macht er so leise als möglich zu, dann setzt er sich an Frau B.’s Schreibtisch und schreibt an Frau C., die seine Frau ist. Er schreibt: Ich liebe Dich. Ich liebe Dich, wie ich keinen Menschen in der Welt lieben kann. Ich möchte jetzt bei Dir sein und mich bei Dir auflösen bis zur Nichtmehrfühlbarkeit der eigenen Existenz. Ich möchte mich durch Dich verlieren. Nicht mehr sein müssen möchte ich durch Dich.

Er schreibt sich in einen Rausch hinein. Die Vorstellung, durch Frau C. erlöst zu werden, reißt ihn hin. Zur Vervollkommnung dieser Empfindung gehört, daß es Frau C. genauso gehen sollte, daß von ihr nicht mehr übrigbliebe als von ihm, also daß sie, er und seine Frau, nur als Eins übrigbleiben würden. Das schreibt er ihr. Dann geht er wieder zurück zu Frau B., die tief schläft, schlüpft aus dem Morgenmantel, legt sich nackt neben die Nackte und sucht möglichst viele Berührungsstellen, Berührungsfelder. Er schraubt Frau B. und sich zusammen, bis beide, er und Frau B., einen dritten Körper bilden. Einen Körper, der, weil er nicht nur auf dem Papier existiert, allem, was geschrieben werden kann, überlegen ist.

Gelogen hat er nicht. Solange er etwas sagt oder schreibt, ist es wahr. Länger kann ohnehin nichts wahr sein.

Soweit die Mitteilung über Herrn A., Frau B. und Frau C.

Darf das nicht so sein? Wer dagegen ist, daß so etwas vorkommt, ist gegen das Leben.

Ist das nun anstößig? Was allgemein gilt und was uns einen solchen Vorgang als anstößig empfinden läßt, ist selber anstößig. Er auf jeden Fall muß, wenn er nach dem lebt, was allgemein gilt, wie unter Betäubung leben. Er muß alle seine Erwartungen irrsinnig nennen.

Er ist voll von Erwartungen, von denen er längst wissen könnte, daß ihnen kein bißchen Wirklichkeit entsprechen darf. Und er lebt von diesen Erwartungen. Er hofft natürlich, bei allen anderen sei das auch so.

Nehmen wir seinen beruflichen Alltag: Wenn er eine geschäftliche Verabredung mit einer Frau hatte, hielt er es jedesmal für mehr als eine geschäftliche Verabredung. Er fuhr überallhin mit abenteuerlichen Geschlechtsphantasien. Er hätte sonst nicht so oft und so weit fahren können. Die Mühen der Bewegung, der Organisation, der Dauer, der Geduld — das wäre unerträglich gewesen, wenn er das Ziel nicht hätte mit einer Frau ausstatten können. Dann stellte sich gewöhnlich heraus, daß es die Frau nicht gab. Er verkraftete diese Abstürze, er war sie ja gewöhnt. Die Rückfahrt war dann die unverminderte Plackerei.

Alle, die er getroffen hat, haben nichts betrieben als die Optimierung des Geschlechtsverkehrs, also glaubt er sich berechtigt, das auch jedem, den er neu kennenlernt, unterstellen zu dürfen. Alle hampeln herum in einer angsterregenden Monstrositätskultur und sind mit nichts beschäftigt als mit der Verfeinerung des Sinnlosen. Die Energie zu dieser Verfeinerung entspringt ausschließlich dem nie und nirgends an ein Ziel gelangenden Bedürfnis nach mehr Geschlechtsverkehr.

Es ist inzwischen deutlich, daß jeder Jüngere ihn für sehr alt hält. Er spürt direkt, wie der Jüngere in jedem Satz an eine Abgeklärtheit und Sterbebereitschaft appelliert, die er nicht hat. Er ist alt, das stimmt. Aber er hat keine anderen Wünsche und Absichten als jemand, der zwanzig Jahre jünger ist. Der einzige Unterschied: Er muß so tun, als habe er diese Wünsche und Absichten nicht. Als sei er darüber hinaus. Deshalb ist das Altern eine Heuchelei vor Jüngeren.

Sein Bein! Alle Wörter, die sein Bein nicht kennen und nicht fassen, sind Fremdwörter, und Fremdwörter sind dazu da, die Wirklichkeit schönzulügen. Ohne Fremdwörter wäre das Leben Schrecken pur. Er wäre nicht imstande, irgend jemandem zu verraten, wie sein Bein aussieht. Weder seinem größten Feind noch seinem engsten Freund. Er ist mit seinem Bein allein in der Welt.