Am Kiosk, wo er jeden Tag seine Zeitungen kauft, bedient seit einigen Tagen eine Neue. Keine fünfundzwanzig. Allzu schwarzgetönte, den Kiosk praktisch sprengende Haare. Eine zu hohe, nie weich werdende Stimme. Ein überall genau und knapp geschwungenes Gesicht und eine sanft sich rundende Stirn, unter der die Augen fast in einer Tiefe liegen. Im Zeitungskiosk, eine solche Erscheinung. Eine schwarze Jeansjacke mit viel zu vielen grellweißen Nähten. Die Person selber ist bestürzend blaß. Und vorgestern, als er wieder seine Zeitungen entgegennahm, sagte sie, als sie ihm das Wechselgeld in die Hand zählte: Ich hab noch einen Fick gut bei dir. Und da sind doch immer noch Leute in der Nähe. Und die tun jedesmal so, als hörten sie diese Sätze nicht. Das kann die feinste Art mitteleuropäischer Toleranz sein. Dann hat die Aufklärung tatsächlich was gebracht. Oder es ist eine Art schmerzlicher Resignation. Die Sätze sind ihnen so peinlich, daß sie keine Chance sehen, da noch rettend einzugreifen. Er hatte nicht den Mut, die Leute zu fragen. Er war ja jedesmal, wenn ihm ein solcher Satz serviert wurde, selber verwirrt. Selig verwirrt allerdings. Mein Gott. Bis zur Unzurechnungsfähigkeit glücklich. Aber natürlich genauso unglücklich. Als die unter ihrem schwarzen Haarstrudel so bestürzend Blasse ihm einen Tag später das Wechselgeld in die Hand zählte, sagte sie gewissermaßen schonungslos: Ich denke mit der Fotze an dich. Er kann da einfach keine Zeitungen mehr kaufen. Wie hat Rilke zu Joni gesagt? Du mußt dein Leben ändern. Das muß er sich auch gesagt sein lassen.
Weißt Du, Helen, das Altwerden beziehungsweise seine Folgen würden, wenn man sie gestünde, wie eine Niederlage wirken. Daß er der Idiot der Saison ist, bitte. Ihn krönt die Lächerlichkeit. Bitte. Alles im Dienste der gewöhnlichen Verzweiflungsvermeidung. Bitte.
Liebe Helen, unter anderen Umständen ist jeder ein anderer Mensch.
Wer keinen Halt mehr hat, kommt auch, wenn er nicht gerufen wird.
Mehrere Frauen schließen einander überhaupt nicht aus. Sie nehmen einander nichts weg. Jede ist ganz anders als alle anderen. Man kann nicht sagen, man könne abends keinen Apfel essen, weil man mittags Schnitzel gegessen hat. Wegen der Einzigartigkeit jedes Menschen gibt es gar keine Untreue. Vorausgesetzt, Liebe ist nicht im Spiel.
(Setze, bitte, hier für Frauen Männer ein.)
Er ist enttäuscht. Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu. Es entwickle sich eine Fähigkeit zu sterben. Hatte er gehofft. Man sei am Leben nicht mehr so interessiert. Jetzt erlebt er, daß das nicht stimmt. Er ist dem Tod sicher so nah wie nie zuvor, aber vom Leben kein bißchen weiter weg als vor dreißig Jahren. Leben ist immer noch etwas, von dem man nicht genug kriegen kann.
Wunschdenken: Das rabiate Genießen des Verblühtseins einer Frau. Die Gemeinsamkeit des Zerfalls als die endgültige Gemeinsamkeit.
Es grüßt ergebenst
Heinrich IX.
Er wußte nicht weiter. Durch das Schreiben hatte er sich bewiesen, daß er Helen das Geschriebene nicht schicken, nicht zumuten konnte. Er wunderte sich jetzt selber darüber, daß er, als er das alles aufgeschrieben hatte, geglaubt hatte, er könne Helen das schicken. Angefangen vom Verschweigen bis zu den Satzgeschenken dieser und jener Frau. Wenn er ihr, was er aufgeschrieben hatte, hinschickte, wäre sie möglicherweise schockiert, dann hatte er ihr die Entscheidung praktisch aufgezwungen. Mit einem Mann, der das und das erlebt, kann man nicht zusammenleben.
Er mußte Helen einen Brief schreiben, den sie in Ruhe lesen würde, um dann in Ruhe zu entscheiden, ob sie und wie sie wieder zusammenleben könnten.
Heute oder morgen würde er allerdings diesen Helen gemäßen Brief nicht schreiben. Solange die Frauen in der Stadt ihn mit solchen Sätzen beschenkten, war dieser Helen gemäße Brief nicht zu schreiben.
Vielleicht durfte er, um Helen einen ihr gemäßen Brief schreiben zu können, nicht mehr in die Stadt gehen. War das vorstellbar? Nicht mehr in die Stadt? Aber das Telefon. Vor einer Woche der Anruf der Magistra Leonie. Ton und Rhythmus gleich aufgeregt. Aufgeregt von dem, was sie ihm mitzuteilen hatte. Sie gehörte zu denen, die ihre Verdienste überschätzen. Wenn sie einem das Datum sagen, tun sie so, als hätten sie einem das Leben gerettet. Diego war das Muster solcher Selbstüberschätzung. Man sollte andauernd danke schön murmeln.
Die Magistra hatte zu melden, daß ihre engste Freundin, Porcia Price, lebend auf Tobago, endlich auch in Deutschland anlegen wolle. Porcia werde ihn baldigst anrufen. Er möge Porcia, bitte, gebührlich behandeln, millionenschwer, leichtfüßig wie ein Lufttier, ihre Romane stapeln sich in jedem Flughafen, als Autorin skrupellos, sie rächt sich ununterbrochen, produziert Peinlichkeiten, weltumspannende, hat drei Kinder von vier Männern, das ist ihr biographisches Logo, Porcia Price, das ist die mit drei Kindern von vier Männern, also, bitte, so eine brillante Beute hat Leonie ihm nicht jeden Tag anzubieten.
Obwohl damit noch nichts gewonnen war, obwohl die Arbeit, aus diesem rabiaten Karibik-Schmetterling eine deutsche Anlegerin zu machen, erst noch getan werden wollte, mußte er sich bei Leonie bedanken, als habe er durch ihren Anruf schon weiß Gott was verdient.
Dann rief sie an: Porcia Price. Ein Geschlinge von Wörtern. Von Tönen. Von Dehnungen und gelegentlichen Stops. Eine Stimme wie eine Dünung. Man wird zum Sandstrand, an dem sie aufläuft und sich auflöst in nichts als Berührung.
Das war doch nicht die von Leonie angekündigte Skandalnudel, das war eine Umarmerin, von der man gar nicht wissen wollte, wie sie aussehe. Sie sei keine Deutsche mehr, sagte sie, sie sei nie eine Deutsche gewesen. Folgenlos verheiratet mit einem Hamburger, aber geborene Nothnagel mit — th-, aus dem Elsaß halt, sie rufe an aus Scarborough, das sei das Hauptstädtchen von Tobago, sie sehe hinaus aufs Meer, sehe die Pelikane im Sturzflug ihre Fische fangen, sehe die Krebse huschen, es sei ein gewöhnlicher Tag, das heißt, bevor man der Trägheit erliege, tue man etwas, ruft an in Germany, beim Experten für Geldvermehrung, weil man, es zu vermehren, dem Geld schuldig sei. Also, Herr von Kahn.
Er sagte ihr seinen Text auf.
Dann sagte sie: Tu die Hand weg.
Woher sie das wisse, fragte er.
Sie sei eine Frau. Und wo er jetzt seine Hand habe, das höre jede Frau.
Also auch keine Telefongespräche mehr.
Liebe Helen,
das ist der zweite Versuch, Dir einen Brief zu schreiben. Der erste geriet, je länger er wurde, um so mehr ins Unabschickbare.
Ich zu sagen gelingt ihm auch dieses Mal nicht. Am liebsten würde er für immer in die dritte Person flüchten. Er schafft das Ich nicht mehr.
Dir gegenüber. Vor allem Dir gegenüber.
Welch eine Kälte überall.
Können zwei Unglückliche einander helfen? Darf einer unglücklicher sein als der andere?
Eine Lösung ist immer lächerlich. In der Ottostraße werden Lösungen gesucht. Und gefunden. Solange man vom anderen mehr verlangt als von sich selber, gibt es keine Lösung.
Solange man von sich selbst mehr verlangen muß als vom anderen, gibt es keine Lösung.
Ohne Lösungen lebt man nicht.
Also doch von sich selber mehr verlangen als vom anderen. Das Unterwerfungsprinzip. Das Idealprinzip. Er unterwirft sich Dir. Mach mit ihm, was Du willst. Das ist seine Genugtuung. Du mußt wissen, was Du anfangen kannst mit einem Unterworfenen. Nicht mehr in die Stadt. Nicht mehr ans Telefon. Die Firma braucht ihn nicht mehr. Der Doktor aus der Schweiz ist ein Erfolg. Daß man immer noch glaubt, siegen zu können. Und sei’s durch die Niederlage.
Was tun?
Bergauf beschleunigen. Mit Kräften, die er nicht hat. Der letzte Genuß, sich zu besiegen. Endlich ist es einmal er, der sich besiegt. Dieses Gefühl, zugleich der Sieger und der Verlierer zu sein, das Leben selbst.