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Oder: Eine Müdigkeit zulassen, die nicht mehr die Folge einer Tätigkeit ist. Von dieser Müdigkeit erhofft er das meiste. Und das an einem Ort, der von allen gleich weit weg ist. Unerreichbar zu sein. Und hätte doch bei Amadeus Stengl lernen können, daß, wer sich eine Alternative abverlangt, seine Seele halbiert.

Bitte bewahre ihn vor jedem ODER.

Ich wäre glücklich, wenn Du glücklich wärst. Dein triumphaler Satz! Noch triumphaler als: Wenn ich nicht mehr leben würde, müßtest Du nicht mehr lügen.

Wenn-dann-Sätze. Wenn Du ihn vor den Entweder-oder-Sätzen bewahrst, schützt er Dich vor den Wenn-dann-Sätzen.

Die Sonne sinkt. Laß die Waffen schweigen. Die Münder verschweigen. Der Februar ist fast vorbei. Deine Schneeglöckchen und Deine Krokusse fangen an. Sie übertreiben es. Wie jedes Jahr. Er meldet Dir ergebenst: Die Krokusse sehen auch in diesem Jahr aus, als seien sie zu früh dran.

Man hat Abend gegessen an verschiedenen Tischen. Das bleibt zu bedauern.

Heute hat er auf dem Heimweg gedacht: Die Bäume haben Angst vor uns. Im Februar sehen sie so aus. Da ist die Osterwaldstraße, laublos, eine Gespensterstraße.

Er hat, seit Du ihn verlassen hast, keinen Schluck Wielands Trunk zu sich genommen. Die Küche betritt er nicht.

Zu zweit muß die Zeit wohl gründlicher totzuschlagen sein als allein.

Jedesmal, wenn er die Haustüre hinter sich zumacht, bricht die Leere über ihn herein. Es ist dann, als habe er kein Gewicht mehr. Allein. Wenn Du das beabsichtigt hast, ihm seine Unwichtigkeit zu demonstrieren, dann hast Du, was Du beabsichtigt hast, erreicht.

Daß Du nicht in der Ottostraße verharrst, hat er bemerkt. Als er Dein Auto auch während der Sprechstundenzeit nicht fand, wo es immer zu finden gewesen war, ging er ins Haus und las Deine Mitteilung: Vorerst finden keine Sprechstunden mehr statt. Er dachte natürlich sofort: Das hast Du gegen ihn geschrieben. Er geht schön brav täglich in sein Geschäft. Außer Frau Lenneweit sieht ihm niemand etwas an. Du aber bist nicht mehr fähig, Deinen von Dir so geliebten Beruf auszuüben. Ja, er gibt es zu. Das hat ihn getroffen. Am liebsten hätte er sich auf die Treppe gesetzt und … Schluß jetzt. Aber daß Du diese Ehe nicht verteidigst! Du kämpfst um jede Ehe wie ums Weltheil selbst. Und diese Ehe läßt Du zerbrechen. Wenn Du kämpfen würdest, wenn Du nicht nur Affektohrfeigen austeiltest, dann könnte er auch kämpfen. Du willst wieder einmal durch Nachgeben siegen. Interessant.

Wundere Dich nicht, der Brief hört auf mit einem Traum. Er könnte sagen: Weil er diesen Traum gestern nacht geträumt habe. Stimmt nicht. Trotzdem wäre, das zu behaupten, nichts, was er eine Lüge nennen würde. Etwas zu sagen, was nicht geschehen ist, wie es gesagt wird, gilt als unwahr. Diesem Sprachgebrauch widersetzt er sich immer erfolglos. Nicht einmal bei sich selber kann er durchsetzen, daß etwas dadurch, daß er es sagt, wahr wird. Der Traum, den er Dir erzählen will, wurde irgendwann geträumt. Er hat ihn Dir nie mitgeteilt. Jetzt will er ihn Dir mitteilen, weil der Traum sich jetzt bei ihm gemeldet hat, ihn beherrscht. Kann sein, daß die Mitteilung betulicher ausfällt, daß sich Kommentarfarben einmischen, die, wenn er Dir den Traum rechtzeitig anvertraut hätte, nicht vorgekommen wären.

Ein unendlich schöner oder paradiesisch schöner Traum also. Von Anfang an. Eine von allem, was stören könnte, befreite Traumwelt. Mehr Menschen, als man auf einen Blick fassen kann. Alle beschäftigt mit Zärtlichsein. Keine Farbe, die an eine andere Farbe stößt. Nur Übergänge. Auch die Bäume, die Sträucher, die Häuser, die Brücken, die Flüsse, die Blumen, alles geht in alles über. Auch das, was man hört. Eine Musik der reinen Vollkommenheit. Hervorgebracht von keinem Instrument. Alles findet einem Mädchen zuliebe statt. Ist sie aus Tau oder Samt oder Licht? Sie ist aber auch ein Mädchen, das geht und steht und sich bückt und streckt und sogar Sprünge macht. Bei den Sprüngen ist sie länger in der Luft, als man das für möglich hält. Man staunt. Ihre grenzenlose Wesens- und Körperschmiegsamkeit, ihre vollkommene Zutunlichkeit bewirkt nichts Geschlechtliches. Aber sie hat einen Namen. Den weiß er nicht. Den möchte er wissen. Den muß er wissen. Das dramatisiert den Traum. Er ist ihr gegenüber, sie öffnet ihren Mund, sie läßt ihre Lippen etwas aussprechen, das nur ihr Name sein kann. Sie hat nichts Hörbares gesagt. Er macht die Lippenbewegungen nach, als ließe sich dann der Name aussprechen. Während seine Lippen nachmachen, was sie mit ihren Lippen vorgemacht hat, greift er nach ihr. Sie lächelt. Sie bestätigt, er hat ihren Namen von ihren Lippenbewegungen abgelesen und er hat sie mit seinen Lippenbewegungen gerufen, sie hat sich gerufen gefühlt. Sie kommt zu ihm. Er sitzt auf einem Thron, auf einem von blühender Kapuzinerkresse überwucherten Thron. Sie setzt sich auf ihn. Sie kriegt ihn zu spüren. Dann das unaufhaltsame Herausgleiten aus ihr. Der Traum wird dünn. Erlischt. Er muß zugeben, daß es ein Traum war. Daß diesem Traum nichts entspricht in der Welt, in der er lebt. Nichts als eine weltfüllende Armut. Die schmerzt. Er war im vergangenen Frühjahr, April oder Mai, nicht fähig, Dir diesen Traum anzuvertrauen. Auch nicht nach dem immer zum Frühstück gereichten Wielandischen herzstärkenden und zungenlösenden Trunk. Gelernt von Dir ist: Es wäre lächerlich, diesem Traum durch Übersetzung Begreiflichkeiten anzutun. Den Traum ausliefern oder ihn verschweigen. Ohne daß damit etwas gesagt sein soll, ist der Traum jetzt nicht mehr nur sein Traum. Dein und sein Traum ist er jetzt.

Wer Dir diesen Brief schreibt, geschrieben hat, ahnst Du, weißt Du. Dich überrascht nicht der Schlußgruß. Du hast ihn kommen sehen.

Es grüßt Dich, wie Du willst,

Deine Helen

PS. Jetzt tobt sich der Reiz aus. Der nicht abgeschickte Brief ist der Brief. Der abgeschickte ist so wahr, wie etwas Gewolltes wahr sein kann.

Sich in Wörter hüllen wie in Gewänder, preisgegeben der Vermutung.

Denk an das Bad, das ausläuft. Am Schluß scheint das Wasser nicht schnell genug in den Abfluß kommen zu können. Das ist angenehmer, als wenn das Wasser sich wehren würde. Das wäre lächerlich, Wasser, das sich dagegen wehrt, verschwinden zu müssen.

Informationen zum Buch

«Eine Abrechnung mit dem Alter, das hemmungslos romantische Manifest einer aussichtslosen Liebe.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Karl von Kahn, Anfang 70, ist Anlageberater; das Geldvermehren ist sein Beruf, seine Kunst und Leidenschaft. Seine Energieformel lautet: „Bergauf beschleunigen“. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Doch dann verliert er seinen besten Freund, seine zwei Frauen. «Angstblüte» erzählt eine Geschichte von Alter und Täuschung und vom Geld, von Liebe, Ehe, Freundschaft — und von einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lässt, nur von sich selbst.

«Ein Formulierungsfest.» (Neue Zürcher Zeitung)

«Ein großer, ein sehr, sehr lesenswerter Roman.» (3sat)

«Ungemein anrührende Bilder des zwischen größtem späten Lebensglück und größtem Unglück schwankenden Mannes.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

«Ein geistreicher und dazu hocherotischer Roman.» (Aspekte)

«Mein Gott, Walser! Welche Wucht. Welche Kraft. Und was für ein Kunststück.» (SWR)

«‹Angstblüte› ein Alterswerk zu nennen hieße, die Vitalität und den Furor mit einer Milde und Abgeklärtheit zu betrachten, die sie weder fordern noch verdient haben … Ein brennend aktueller Roman.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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