Sie redet ein bisschen viel, dachte Marilla, aber das kann man ihr vielleicht noch abgewöhnen. Außerdem ist an dem, was sie sagt, nichts Gemeines oder Unerzogenes. Eigentlich spricht sie fast wie eine kleine Dame. Und sie scheint aus einer guten, anständigen Familie zu stammen.
Während Marilla mit ihren Gedanken beschäftigt war, bewunderte Anne mit großen Augen die schöne Landschaft. Auf der einen Seite der Straße fielen rote Sandsteinfelsen steil zum Ufer hinab. Am Fuß der Felsen lagen kleine sandige Buchten, an deren Rand sich ausgewaschene Steine häuften. Dahinter schimmerte blau die See. Die Flügel der Möwen glänzten silbrig in der Nachmittagssonne.
»Ist das Meer nicht wunderschön?«, brach Anne ihr andächtig staunendes Schweigen. »Als ich noch in Maryville gewohnt habe, hat Mr Thomas einmal mit uns allen einen Ausflug an die Küste gemacht. Ich habe jede Sekunde davon genossen, obwohl ich die ganze Zeit auf die Kinder aufpassen musste. Seitdem habe ich mir den Tag wohl tausendmal in Erinnerung gerufen. Hier ist die Küste aber noch viel schöner als in Maryville. - Würden Sie auch so gern eine Möwe sein wie ich? Ach, es muss wunderschön sein, den Tag mit einem Sturzflug von den roten Felsen zu beginnen, stundenlang über dem blauen Wasser zu schweben und nachts ins eigene Nest zurückzukehren! Was für ein großes Haus ist das da vorne, Miss Cuthbert?«
»Das ist das White Sands Hotel. Die Saison hat noch nicht begonnen, aber im Sommer kommen jede Menge Amerikaner hierher. Sie lieben die Küste.«
»Und ich hatte schon befürchtet, es wäre Mrs Spencers Haus«, sagte Anne traurig. »Von mir aus brauchten wir überhaupt nicht dort anzukommen. Unsere Ankunft wird für mich der Anfang vom Ende sein.«
06 - Marilla fasst einen Entschluss
Die Ankunft in White Sands ließ sich allerdings nicht vermeiden -schon nach kurzer Zeit erreichten Marilla und Anne das Ziel ihrer Reise. Mrs Spencer trafen sie vor ihrem großen gelben Haus in der Bucht von White Sands. Erstaunen und Freude über den unerwarteten Besuch standen auf ihrem gütigen Gesicht geschrieben.
»Na, so was!«, rief sie aus. »Euch hätte ich heute am allerwenigsten erwartet! Aber ich freue mich, euch zu sehen. Wollt ihr euer Pferd unterstellen? Wie geht es dir, Anne?«
»Den Umständen entsprechend gut, danke«, sagte Anne, ohne zu lächeln. Alle Lebensfreude schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. »Es ist nämlich so, Mrs Spencer«, ergriff Marilla das Wort, »es muss zwischen uns ein Missverständnis gegeben haben und wir sind herübergekommen, um die Sache aufzuklären. Matthew und ich hatten Ihrem Bruder Robert gesagt, dass wir einen Jungen möchten.«
»Was sagen Sie da, Marilla?«, rief Mrs Spencer überrascht. »Robert hat seine Tochter Nancy vorbeigeschickt und sie hat ausdrücklich nach einem Mädchen für Sie verlangt — war es nicht so, Flora Jane?«, wandte sie sich an ihre Tochter, die nun ebenfalls vor die Tür getreten war.
»Ja, so war es«, bestätigte Flora Jane.
»Es tut mir außerordentlich Leid«, sagte Mrs Spencer, »aber es war sicherlich nicht mein Fehler, Marilla. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Nancy ist manchmal so gedankenlos. Ich musste sie schon oft wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln.«
»Es war wohl unser Fehler«, erwiderte Marilla verdrossen. »Wir hätten selbst zu Ihnen kommen sollen, anstatt eine so wichtige Botschaft von anderen übermitteln zu lassen. Es war einfach ein Missverständnis und zum Glück lässt sich die Sache ja bestimmt wieder ins Lot bringen. Das Waisenhaus wird das Kind doch wieder aufnehmen?«
»Das müssen sie wohl«, sagte Mrs Spencer nachdenklich, »aber ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird. Mrs Peter Blewett war nämlich gestern da und hat nach einem kleinen Mädchen gefragt, das ihr im Haushalt zur Hand gehen könnte. Sie hat eine riesengroße Familie und Sie wissen ja, wie schwer man es heutzutage hat eine Hilfe zu finden. Anne ist genau die Richtige für sie. Das kann man eine Fügung des Himmels nennen!«
Marilla sah nicht so aus, als würde sie in diesem Fall an eine Fügung des Himmels glauben. Da tat sich nun plötzlich eine bequeme Lösung auf, das unerwünschte Waisenkind wieder loszuwerden — und sie empfand nicht die geringste Dankbarkeit dafür...
Marilla kannte Mrs Blewett nur vom Sehen, hatte allerdings schon viel von ihr gehört: einen »schrecklichen Drachen« hatten entlassene Dienstmädchen und andere Leute im Dorf sie genannt und dabei Furcht erregende Geschichten von ihrem launischen Wesen, ihrer Knauserigkeit und ihrer frechen, streitsüchtigen Kinderschar erzählt. Bei dem Gedanken, Anne der Gnade oder Ungnade dieser Frau zu überlassen, regte sich Marillas Gewissen.
»Na, so etwas! Da kommt ja gerade Mrs Blewett den Weg herauf«, rief Mrs Spencer freudig. »Was sagt man dazu? Kommen Sie doch bitte alle herein, dann können wir das Ganze gleich besprechen. Hier, nehmen Sie den Sessel, Marilla. Geben Sie mir Ihren Hut. Und du, Anne, setz dich hier auf den Polsterstuhl — aber nicht schaukeln! Florajane, stell doch bitte den Teekessel auf! Guten Tag, Mrs Blewett. Wir haben gerade gesagt, was für eine glückliche Fügung es ist, dass Sie heute bei mir vorbeischauen. Darf ich vorstellen: Mrs Blewett, Miss Cuthbert. Bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment, ich habe vergessen Flora Jane zu sagen, dass sie die süßen Brötchen aus dem Ofen holen soll.«
Die Hände artig im Schoß gefaltet, saß Anne stumm auf ihrem Stuhl und starrte unverwandt auf Mrs Blewetts hagere Gestalt. Sollte sie tatsächlich zu dieser Frau mit dem harten Gesicht und den verbitterten Augen kommen? Der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker und ihre Augen begannen zu brennen.
»Mit diesem kleinen Mädchen hat es ein Missverständnis gegeben, Mrs Blewett«, erklärte Mrs Spencer, als sie in den Salon zurückkehrte. »Ich hatte gedacht, dass Mr und Miss Cuthbert ein kleines Mädchen adoptieren wollen. So war es mir ausgerichtet worden. Aber offensichtlich wollten sie einen kleinen Jungen. Wenn Sie also immer noch der Ansicht sind wie gestern, wäre die Kleine, glaube ich, genau das Richtige für Sie.«
Mrs Blewett spießte Anne förmlich auf mit ihren Blicken und musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle.
»Wie alt bist du? Und wie heißt du?«, wollte sie wissen.
»Anne Shirley«, stammelte das Mädchen und sank auf seinem Stuhl förmlich in sich zusammen. Vor lauter Angst traute es sich nicht einmal auf das e am Ende seines Namens hinzuweisen. »Ich bin elf Jahre alt.«
»Hm! Nicht gerade viel dran an dir, aber du siehst drahtig aus und die Drahtigen können die härteste Arbeit leisten. Wenn ich dich aufnehmen soll, erwarte ich jedoch äußersten Gehorsam und Fleiß. Du musst dir deinen Unterhalt schon verdienen - damit das gleich von vornherein klar ist!« Dann wandte sich Mrs Blewett Marilla zu. »Also gut, ich nehme sie Ihnen ab, Miss Cuthbert. Die Kinder quengeln den ganzen Tag und ich bin schon völlig mit den Nerven runter. Wenn Sie wollen, kann ich sie gleich mit nach Hause nehmen.«
Marilla sah zu Anne hinüber und dieser Anblick stummer Trauer ging ihr durch und durch. Sie sah ein hilfloses Geschöpf vor sich, das schon wieder in der Falle saß, der es gerade erst entronnen war. Marilla hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie sich dieses Kindes nicht erbarmte - ja, sie spürte, dass dieses Bild sie noch auf dem Totenbettverfolgen würde. Außerdem gefiel ihr Mrs Blewett ganz und gar nicht. Ein so empfindsames, zartes Kind in die Hände dieser Frau zu geben . . . Nein, das konnte sie einfach nicht verantworten!
»Nun, ich weiß nicht so recht«, begann sie langsam. »Eigentlich sind Matthew und ich uns noch nicht ganz schlüssig, ob wir Anne wirklich wieder weggeben wollen. Matthew jedenfalls neigt eher dazu, sie zu behalten. Ich bin eigentlich nur herübergekommen, um das Missverständnis aufzuklären. Ich glaube, ich nehme sie heute am besten wieder mit nach Green Gables und bespreche die ganze Sache noch einmal mit Matthew. Ich möchte nichts entscheiden, ohne ihn vorher gefragt zu haben. Falls wir sie nicht behalten wollen, bringen wir sie Ihnen morgen Abend hinüber. Wenn Sie jedoch bis dahin nichts von uns hören, wissen Sie, dass wir sie behalten werden. Ist Ihnen das so recht, Mrs Blewett?«