»Es gefällt mir sehr. >Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name . . .< Das klingt ja wie die schönste Musik. Ach, ich bin so froh, dass Sie ... ich meine, dass du mich das lernen lässt, Marilla.«
Anne zog die Vase mit den Apfelblüten so nahe heran, dass sie auf eine der rosa Knospen einen zarten Kuss drücken konnte, und vertiefte sich dann wieder für kurze Zeit in ihr Studium.
»Marilla«, wollte sie plötzlich wissen, »glaubst du, dass ich in Avonlea jemals eine Busenfreundin finden werde?«
»Eine was?«
»Eine Busenfreundin - eine wirklich verwandte Seele, der ich mein Herz anvertrauen kann. Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang. Ich habe zwar nie geglaubt, dass ich wirklich einmal eine Busenfreundin finden könnte, aber in den letzten Tagen sind so viele meiner Träume wahr geworden, dass sich dieser vielleicht auch noch erfüllen könnte. Hältst du das für möglich?«
»Diana Barry drüben auf Orchard Slope ist ungefähr in deinem Alter. Sie ist ein sehr nettes kleines Mädchen. Vielleicht kannst du mit ihr spielen, wenn sie wieder nach Hause kommt. Zur Zeit ist sie noch zu Besuch bei ihrer Tante in Carmody. Aber du musst gut aufpassen: Mrs Barry ist eine strenge Frau, mit ihr ist nicht zu spaßen. Sie lässt ihre kleine Diana nur mit Kindern spielen, die besonders brav und artig sind.«
Annes Wangen glühte. »Wie sieht Diana aus?«
»Sie ist ein hübsches kleines Mädchen. Sie hat schwarze Augen und Haare und rosige Wangen. Und sie ist brav und fleißig, was sehr viel wichtiger ist.«
»Ach, ich bin so froh, dass sie hübsch ist! Wenn man selbst hässlich ist, dann tut es doppelt gut, eine hübsche Busenfreundin zu haben. Die einzige Freundin, die ich je hatte, war Katie, meine >Fensterfreundin<. In Mrs Thomas’ Wohnzimmer stand ein Bücherschrank mit Glastüren, musst du wissen. Bücher hatte Mrs Thomas zwar keine, aber sie bewahrte ihr gutes Porzellan und ihr Eingemachtes in dem Schrank auf. Ihr Mann hatte die eine Tür zerschlagen, als er einmal nachts betrunken nach Hause gekommen war, aber die andere Tür war noch heil. Da hab ich oft davor gestanden und mir vorgestellt, mein Spiegelbild wäre ein anderes Mädchen, das in diesem Schrank lebte. Ich nannte sie Katie Maurice und wir waren richtige Freundinnen. Manchmal sprach ich stundenlang mir ihr, besonders an den Sonntagen, wenn es nichts zu tun gab. Ihr konnte ich alles sagen: Katie war mein Trost und Beistand. Ich habe mir oft gewünscht, den Zauberspruch zu kennen, um die Tür zu dem verwunschenen Schrank öffnen zu können und statt zwischen Mrs Thomas’ Einmachgläsern plötzlich mitten in Katies Zimmer zu stehen. Katie Maurice hätte mich dann bei der Hand genommen und mich in ein wunderbares Land geführt, wo die Feen tanzen und das ganze Jahr über die Sonne scheint und die Blumen blühen ...«
»Nun«, fiel Marilla ein, »es wird dir gut tun, wenn du eine richtige Freundin bekommst, dann kannst du dir diesen ganzen Blödsinn aus dem Kopf schlagen. Lass nur Mrs Barry nichts von deinen Fenster- und Busenfreundinnen hören, sonst wird sie dich als Schwindlerin abstempeln.«
»Ich passe schon auf, schließlich würde ich sowieso nicht jedem davon erzählen. - Oh, sieh doch nur! Gerade ist eine Biene aus der Apfelblüte gekrochen. Wie schön das sein muss, in einer duftenden Blüte zu leben! Vom Wind sanft in den Schlaf gewiegt zu werden! Wenn ich kein kleines Mädchen wäre, würde ich am liebsten eine Biene sein.«
»Gestern wolltest du noch eine Möwe sein«, versetzte Marilla trocken. »Mir scheint, du bist ein ziemlich wankelmütiges kleines Mädchen. Außerdem sollst du ein Gebet lernen und nicht pausenlos plappern. Offensichtlich kannst du einfach nicht still sein, solange jemand in deiner Nähe ist. Am besten gehst du nach oben in dein Zimmer und lernst es da.«
»Kann ich den Apfelzweig mit hinaufnehmen, damit ich Gesellschaft habe?«, bat Anne.
»Nein. Ich bin sowieso nicht dafür, das Haus mit Blumen vollzustopfen. Du hättest den Zweig gar nicht erst pflücken sollen.«
»Das habe ich auch zuerst gedacht«, stimmte Anne zu. »Ich konnte richtig spüren, wie ich das Leben der Blüten verkürzte, indem ich den Zweig abbrach. Wenn ich eine Apfelblüte wäre, würde ich ja schließlich auch nicht abgepflückt werden wollen. Aber die Versuchung war unwiderstehlich. Was soll man da machen?«
»Anne, hast du nicht gehört? Du sollst in dein Zimmer gehen!« Seufzend stieg Anne die Stufen zum Ostgiebel hinauf und setzte sich auf den Stuhl am Fenster.
Das Gebet kann ich ja schon längst, die letzten Zeilen habe ich mir noch schnell auf der Treppe gemerkt, dachte sie. Jetzt werde ich mir ein paar schöne Sachen für mein Zimmer vorstellen: einen weißen Samtteppich mit rosa Blüten für den Fußboden, rosa Seidengardinen für die Fenster, goldene und silberne Brokattapeten für die Wände, Mahagonimöbel und ein Sofa mit vielen farbigen Seidenkissen ... In dem riesengroßen Spiegel an der Wand kann ich mein Spiegelbild sehen. Ich bin eine große, hoheitsvolle Erscheinung in einem fließenden Gewand aus weißer Seide. Mein Haar schimmert tiefschwarz und meine Haut ist so hell und rein wie Elfenbein. Mein Name ist Lady Cordelia Fitzgerald . .. Nein, irgendwie klappt es heute nicht. »Anne von Green Gables«, sagte sie laut, »du kommst mir immer dazwischen, wenn ich versuche mir vorzustellen, ich wäre Lady Cordelia.« Sie beugte sich vor, küsste liebevoll ihr eigenes Spiegelbild und ging zum offenen Fenster zurück. Das Kinn in beide Hände gestützt, träumte sie in den Himmel hinein.
08 - Mrs Rachel Lynde ist entsetzt
Mehr als zwei Wochen vergingen, bevor Mrs Lynde endlich nach Green Gables kam, um Anne in Augenschein zu nehmen. Die ehrenwerte alte Dame trug an dieser Verzögerung allerdings keine Schuld: Eine plötzliche schwere Grippe hatte sie seit ihrem letzten Besuch bei Marilla ans Bett gefesselt. Mrs Rachel war nicht oft krank und zeigte eine gewisse Verachtung für kränkliche Menschen. Doch eine Grippe, so behauptete sie, war mit keiner anderen Krankheit auf der Welt zu vergleichen und konnte nur als Schicksalsschlag gedeutet werden. Sie konnte es kaum erwarten, wieder gesund zu werden. Sobald der Doktor ihr erlaubte, einen Fuß vor die Tür zu setzen, eilte sie - von ungestillter Neugierde gepeinigt - nach Green Gables hinüber, um sich Marillas und Matthews Waisenkind anzuschauen, über das in Avonlea schon die seltsamsten Gerüchte kursierten. Anne hatte in jenen zwei Wochen jede wache Minute genutzt, um sich mit allen Bäumen und Büschen in der Umgebung bekannt zu machen, die Tannenwälder jenseits des Obstgartens zu erkunden und immer wieder neue Lichtungen mit wilden Kirschen, hohem Farnkraut und einzelnen Ahornbäumen und Ebereschen zu entdecken. Auch mit dem Brunnen unten in der Senke - einer eiskalten, in roten Sandstein gefassten Quelle - hatte sie schon Freundschaft geschlossen. Von riesigen Farnwedeln beschattet, sah der Brunnen aus wie eine palmumstandene Oase in der Wüste, fand Anne. Nicht weit entfernt führte eine alte Holzbrücke über den Bach, auf dessen anderer Seite sich eine Wiese mit blauen Glockenblumen und hellen Gelbsternen erstreckte. Zarte Spinnweben schimmerten wie Silberfäden zwischen den Bäumen.
Von den Entdeckungsreisen, die sie täglich in ihrer freien Zeit unternahm, kehrte Anne stets mit leuchtenden Augen zurück und lag dann Manila und Matthew mit ausführlichen Erzählungen über ihre Erlebnisse in den Ohren. Nicht, dass Matthew sich etwa beschwert hätte! Mit einem freudigen, stummen Lächeln hörte er ihr geduldig zu. Manila wiederum ließ Anne so lange reden, bis ihr Geplauder sie zu interessieren begann; wenn sie das merkte, brachte sie Anne mit einem kurzen Tadel zum Schweigen.