Anne spielte gerade draußen im Garten, als Mrs Rachel langsam herüberkam. Die ehrbare alte Dame hatte also Gelegenheit, die Geschichte ihrer Krankheit in allen Einzelheiten vor Marilla auszubreiten, und sie nutzte diese Gelegenheit mit solch genüsslicher Hingabe, dass Marilla sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass eine Grippe für gewisse Leute auch ihre guten Seiten hatte.
Als sie dieses Thema erschöpfend behandelt hatte, kam Mrs Rachel endlich auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zu sprechen.
»Ich habe einige erstaunliche Dinge über dich und Matthew gehört.«
»Niemand war erstaunter als ich selbst«, erwiderte Marilla, »aber ich gewöhne mich langsam daran.«
»Es war aber auch ein ärgerliches Missverständnis«, sagte Mrs Rachel teilnehmend. »Konntet ihr sie nicht wieder zurückschicken?«
»Wir hätten es tun können, aber wir haben uns anders entschieden. Matthew hatte die Kleine ins Herz geschlossen, und ich muss sagen, ich habe sie mittlerweile auch lieb gewonnen - obgleich ich zugeben muss, dass sie ihre Fehler hat. Unser Leben hat sich seit ihrer Ankunft irgendwie verändert. Sie ist ein richtiger Sonnenschein.«
Marilla hatte bereits mehr gesagt, als sie eigentlich preisgeben wollte. Mrs Rachel sah sie ernst an; abgrundtiefe Missbilligung stand auf ihrem Gesicht geschrieben.
»Das ist eine große Verantwortung, die ihr da übernommen habt«, sagte sie finster, »zumal ihr beide überhaupt keine Erfahrung mit Kindern habt. Außerdem wisst ihr bestimmt nicht viel über diese Anne und ihre Herkunft. Man kann nie Voraussagen, wie sich so ein Kind entwickeln wird. Aber ich will dich ja nicht entmutigen, Marilla.«
»Ich fühle mich nicht entmutigt«, antwortete Marilla trocken. »Wenn ich mich einmal zu etwas entschlossen habe, dann bleibt es auch dabei. Ich nehme an, du willst Anne kennen lernen. Ich werde sie hereinrufen.« Bald darauf kam Anne ins Haus gelaufen. Ihr Gesicht glühte noch vor Freude über ihre neuesten Entdeckungen draußen im Garten. Doch als sie die unerwartete Besucherin in der Küche sah, blieb sie überrascht an der Tür stehen. In ihrem kurzen Flanellkleid aus dem Waisenhaus, unter dem ihre Beine lang und staksig herausschauten, bot sie einen recht seltsamen Anblick. Ihre zahlreichen Sommersprossen wirkten noch auffälliger als zuvor und ihr vom Wind zerzaustes Haar sah röter aus als je zuvor.
»Na, deiner Schönheit wegen haben sie dich bestimmt nicht ausgewählt, das ist schon mal sicher«, war Mrs Rachels erster Kommentar. Wie immer nahm sie kein Blatt vor den Mund. »Das Mädchen ist ja spindeldürr, Marilla. Komm mal her, Kind, und lass dich anschauen. Du lieber Himmel, hat man jemals so viele Sommersprossen auf einem Fleck gesehen? Und ihre Haare sind so rot wie Karotten! Komm her, hab ich gesagt!«
Anne kam zwar her - aber nicht so, wie Mrs Rachel es wohl erwartete hatte. Mit einem Satz sprang sie quer durch die Küche und baute sich mit hochrotem Gesicht vor Mrs Rachel auf.
»Ich hasse Sie!«, schrie Anne mit erstickter Stimme und stampfte mit dem Fuß auf den Küchenfußboden.
»Wie können Sie sagen, ich hätte Sommersprossen und Haare wie Karotten? Was sind Sie nur für ein gemeiner, gefühlloser Mensch!«
»Anne!«, rief Marilla bestürzt aus.
Doch Anne war unerschütterlich in ihrem Zorn. Mit erhobenem Kopf und verschränkten Armen stand sie da. Ihre Augen funkelten vor Empörung.
»Wie können Sie es wagen, so etwas über mich zu sagen?«, wiederholte sie leidenschaftlich. »Was würden Sie denken, wenn jemand solche hässlichen Dinge über Sie sagen würde? Wenn jemand Sie eine alte Vettel nennen würde, die keinen Funken Phantasie hat? Es ist mir egal, ob ich Sie damit kränke. Ich hoffe, ich habe Sie gekränkt, denn Sie haben mich schlimmer getroffen als irgendjemand zuvor in meinem Leben - Mr Thomas, der Säufer, eingeschlossen. Und ich werde Ihnen niemals verzeihen. Niemals!«
»Anne, geh in dein Zimmer und rühr dich nicht von der Stelle, bis ich zu dir komme«, befahl Marilla, als sie die Sprache wieder gefunden hatte.
Anne brach in Tränen aus, schlug mit einem lauten Knall die Küchentür zu und floh wie ein Wirbelwind die Treppe zum Ostgiebel empor. Ein weiterer Knall zeigte an, dass sie die Tür zu ihrem Zimmer mit gleicher Gewalt zugeschlagen hatte.
»Nun, ich beneide dich nicht um die Aufgabe, diesen »kleinen Sonnenschein« aufzuziehen«, sagte Mrs Rachel kühl.
Marilla wollte zu einer ausführlichen Entschuldigung ansetzen. Von dem, was sie dann schließlich wirklich sagte, war sie selbst am allermeisten überrascht.
»Du hättest sie nicht mit ihrem Aussehen aufziehen dürfen, Rachel.«
»Marilla Cuthbert, du willst doch wohl nicht etwa diesen unglaublichen Auftritt von eben auch noch verteidigen?«, entrüstete sich Mrs Rachel.
»Nein«, antwortete Marilla bedächtig, »ich will Anne nicht in Schutz nehmen. Sie war sehr ungezogen und ich werde ernsthaft mit ihr reden müssen. Aber wir müssen ihr mildernde Umstände zugestehen. Bisher hat ihr niemand beigebracht, was sich gehört und was nicht. Und du hast sie herausgefordert, Rachel.«
Sichtlich gekränkt stand Mrs Rachel auf. »Nun, ich sehe schon, ich werde ab heute meine Worte auf die Goldwaage legen müssen, da die Gefühle irgendwelcher dahergelaufener Waisenkinder bei dir jetzt offensichtlich höher im Kurs stehen als Sitte und Anstand. Oh, nein, ich bin nicht böse - mach dir nur keine Sorgen. Du tust mir viel zu Leid, als dass ich irgendeinen Zorn gegen dich hegen könnte. Du wirst noch genug Sorgen mit dem Kind haben. Aber wenn du mich um Rat fragst - was du wahrscheinlich nicht tun wirst, obgleich ich zehn Kinder aufgezogen und zwei begraben habe —, würde ich mir für das >Mit-ihr-Reden< eine kräftige Birkenrute besorgen. Das ist die einzige Sprache, die diese Kinder verstehen - jawohl! Wahrscheinlich entspricht ihr Wesen ihrer Haarfarbe ... Also dann, auf Wiedersehen, Marilla. Ich hoffe, du kommst mich in Zukunft genauso oft besuchen wie früher. Aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich noch mal den Fuß über die Schwelle eines Hauses setze, in dem man mich derart beschimpft und beleidigt hat. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Ich bin entsetzt!«
Damit rauschte sie durch die Tür ins Freie und Marilla stieg mit finsterer Miene in den Ostgiebel hinauf.
Auf dem Weg nach oben dachte sie angestrengt darüber nach, was sie tun sollte. Was sich da eben abgespielt hatte, war ihr äußerst unangenehm. Ausgerechnet mit Rachel Lynde musste Anne Zusammenstößen! Wie sollte sie Anne bloß bestrafen? Der liebenswürdige Vorschlag, eine Birkenrute zu benutzen - eine Erziehungsmethode, von deren Wirksamkeit Mrs Rachels zahlreiche Kinder ein Liedchen singen konnten war für Marilla nicht geeignet. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein Kind zu schlagen. Nein, sie musste eine andere Strafe finden, die Anne das ungeheure Ausmaß ihres Vergehens eindringlich ins Bewusstsein rufen würde.
Als Marilla das Zimmer betrat, lag Anne mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett und weinte bitterlich. Um ihre dreckigen Stiefel auf der Tagesdecke schien sie sich nicht zu scheren.
»Anne!« Marillas Stimme klang nicht unfreundlich.
Keine Antwort.
»Anne!«, wiederholte Marilla mit etwas mehr Nachdruck. »Komm sofort vom Bett herunter und hör zu, was ich dir zu sagen habe.« Unwillig stand Anne auf und setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Tisch. Ihr tränenüberströmtes Gesicht war rot geschwollen, sie schaute trotzig vor sich auf den Boden.
»Das war ja ein schönes Benehmen, das du da gezeigt hast, Anne! Schämst du dich denn gar nicht?«
»Sie hatte kein Recht, mich spindeldürr zu nennen und sich über meine Sommersprossen und meine roten Haare lustig zu machen«, entgegnete Anne starrköpfig.
»Und du hattest kein Recht, dich in eine derartige Wut hineinzusteigern und Mrs Lynde zu beschimpfen, Anne. Ich habe mich für dich geschämt - richtig geschämt! Ich wollte, dass du dich gut gegenüber Mrs Lynde benimmst und stattdessen hast du mir nur Schande gemacht. Außerdem verstehe ich nicht, wie du eine solche Wut kriegen kannst, wenn Mrs Lynde sagt, du hättest rote Haare und wärst hässlich - du sagst das doch selbst oft genug.«