»Ja, aber es ist ein riesengroßer Unterschied, ob man so etwas selber sagt oder es von anderen hören muss«, schluchzte Anne. »Man weiß, dass es so ist, aber man hofft trotzdem immer, dass andere Leute es nicht so finden. Und als sie alle diese Dinge zu mir gesagt hat, da hat mich ein solcher Zorn gepackt, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich musste einfach auf sie losgehen.«
»Nun, du hast uns eine schöne Vorstellung gegeben, das muss ich sagen. Mrs Lynde wird ihr Vergnügen daran haben, es überall herumzuerzählen - und dass sie es herumerzählt, darauf kannst du Gift nehmen! Es ist schlimm, dass du so die Beherrschung verloren hast, Anne.«
Eine alte Erinnerung stieg in Marilla auf: Als kleines Kind hatte sie einmal gehört, wie eine ihrer Tanten mit ihrer Mutter über sie sprach und sagte: »Ein Jammer, dass sie so mickrig und unscheinbar ist.« Selbst in ihrem fortgeschrittenen Alter hatte Marilla den Stich, den ihr diese Worte versetzt hatten, noch nicht ganz überwunden.
»Ich sage ja nicht, dass Mrs Lynde unbedingt Recht damit hatte, diese Dinge zu sagen, Anne«, gab sie mit etwas weicherer Stimme zu. »Rachel nimmt aber nun mal kein Blatt vor den Mund. Und das ist keine Entschuldigung für dein Benehmen. Sie ist eine Erwachsene, ein Gast und überdies unsere Nachbarin - drei sehr gute Gründe dafür, ihr höchsten Respekt zu zollen. Stattdessen warst du grob und frech zu ihr, und« - Marilla hatte plötzlich die rettende Idee für eine passende Strafe — »du wirst zu ihr gehen und sie für dein schlechtes Benehmen um Verzeihung bitten.«
»Niemals!«, erwiderte Anne bestimmt. »Du kannst mich bestrafen, wie du willst, Marilla. Steck mich in ein dunkles, feuchtes Verlies, wo es von Schlangen und Kröten nur so wimmelt, lass mich bei Wasser und Brot schmachten - ich werde mich nicht beklagen. Aber Mrs Lynde um Verzeihung bitten, das bringe ich nicht über mich!«
»Es ist bei uns nicht Sitte, Menschen in dunkle, feuchte Verliese zu sperren«, sagte Marilla trocken, »und Schlagen und Kröten sind in Avonlea auch recht selten. An der Entschuldigung bei Mrs Lynde führt für dich kein Weg vorbei. Du bleibst solange hier in deinem Zimmer, bis du mir sagst, dass du dazu bereit bist.«
»Dann muss ich bis in alle Ewigkeit hier bleiben«, sagte Anne traurig. »Ich kann Mrs Lynde nicht sagen, dass es mir Leid tut, was ich gesagt habe. Wie könnte ich das? Es tut mir nicht Leid. Ich will dir keinen Kummer machen, Marilla, aber ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, dass es mir Leid tut.«
»Vielleicht arbeitet deine Vorstellungskraft morgen früh wieder besser«, sagte Marilla und stand auf. »Du hast die ganze Nacht Zeit, um über dein Verhalten nachzudenken und deine Meinung zu ändern. Du hast versprochen, ein artiges, braves Mädchen zu sein, wenn wir dich auf Green Gables behalten. Ich muss sagen: Heute Abend hat es ganz und gar nicht danach ausgesehen.«
Mit diesen Worten verließ Marilla das Zimmer und ging besorgt in die Küche hinunter. Dabei war sie über sich selbst mindestens ebenso empört wie über Anne, denn jedes Mal, wenn sie sich an Mrs Rachels sprachloses Entsetzen erinnerte, stahl sich unwillkürlich ein amüsiertes Lächeln auf ihre Lippen und sie spürte das starke Verlangen, in lautes Gelächter auszubrechen.
09 - Eine gründliche Entschuldigung
An jenem Abend erzählte Manila ihrem Bruder nichts von den dramatischen Ereignissen, doch als sich Anne am nächsten Morgen immer noch nicht einsichtig zeigte, musste sie ihm eine Erklärung für Annes Abwesenheit am Frühstückstisch geben. Also erzählte sie Matthew die ganze Geschichte, aber obwohl sie sich große Mühe gab, gelang es ihr nicht, ihm die Ungeheuerlichkeit von Annes Benehmen klarzumachen.
»Es ist gar nicht schlecht, dass Rachel Lynde mal einen Dämpfer bekommen hat. Sie ist eine unverbesserliche alte Klatschbase«, meinte er nur dazu.
»Matthew Cuthbert, ich kann nur staunen! Du weißt ganz genau, dass Anne sich gründlich danebenbenommen hat, und trotzdem nimmst du sie noch in Schutz! Als Nächstes wirst du wohl sagen, dass sie gar keine Strafe verdient hat.«
»Hm, nein ... nein, das nicht«, sagte Matthew beklommen. »Ich denke, ein bisschen bestraft werden müsste sie schon. Aber sei nicht zu streng mit ihr, Marilla. Denk daran: Bisher hat ihr niemand gesagt, was richtig und falsch ist. Du ... du wirst ihr doch etwas zu essen geben?«
»Meinst du, ich lasse sie verhungern?«, versetzte Marilla entrüstet. »Sie bekommt regelmäßig ihre Mahlzeiten. Ich bringe sie ihr selbst in ihr Zimmer. Aber sie bleibt solange dort oben, bis sie bereit ist, sich bei Mrs Lynde zu entschuldigen. Und dabei bleibt es, Matthew.« Frühstück, Mittag- und Abendessen gingen vorüber, doch Anne wollte immer noch nicht einlenken. Nach jeder Mahlzeit trug Marilla ein reichlich ausgestattetes Tablett in den Ostgiebel hinauf und brachte es später genauso voll wieder herunter. Matthew verfolgte dieses Geschehen mit besorgten Blicken. Hatte Anne überhaupt etwas gegessen?
Als Marilla am Abend hinausging, um die Kühe von der Weide zu holen, schlüpfte Matthew - der heimlich hinter der Scheune gewartet hatte - wie ein Dieb in sein eigenes Haus und schlich die Treppe zum Ostgiebel hinauf. Auf Zehenspitzen tastete er sich den Flur entlang und hielt einige Minuten lang vor Annes Zimmertür inne, bis er genug Mut gefasst hatte, die Klinke herunterzudrücken.
Anne saß auf einem Stuhl am Fenster und ließ ihre traurigen Blicke über den Garten streifen. Sie sah sehr klein und unglücklich aus. Matthews Herz fing bei diesem Anblick heftig an zu schlagen. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und kam auf Zehenspitzen zu ihr hinüber. »Anne«, flüsterte er, als hätte er Angst, dass jemand ihn hören könnte, »wie geht es dir, Anne?«
Anne lächelte schwach. »Ganz gut. Ich träume viel und das hilft, die Zeit zu vertreiben. Natürlich ist es ziemlich einsam. Aber ich werde mich schon daran gewöhnen.«
Anne lächelte wieder - tapfer sah sie den langen Jahren ihrer Gefangenschaft entgegen.
Matthew schwieg betroffen. Doch dann erinnerte er sich wieder daran, dass er ihr sagen musste, weshalb er gekommen war - und zwar so schnell wie möglich, bevor Marilla von der Weide zurückkehrte. »Hm, Anne .. . meinst du nicht, dass du es besser schnell hinter dich bringen solltest?«, flüsterte er. »Früher oder später musst du es sowieso tun, weißt du. Marilla ist nämlich ein schrecklicher Dickkopf. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. . . Tu es lieber gleich, Anne, dann hast du es hinter dir.«
»Mich bei Mrs Lynde entschuldigen, meinst du?«
»Ja, entschuldigen, das ist das richtige Wort«, sagte Matthew eifrig. »Die Sache gerade biegen. Das ist es, was ich sagen will.«
»Wenn ich dir damit einen Gefallen tun könnte . . .«, erwiderte Anne nachdenklich. »Für dich würde ich alles tun ... wenn du es wirklich willst...«
»Natürlich will ich das. Unten ist es fürchterlich einsam ohne dich. Geh einfach hin und bring die Sache ins Reine. Dann ist alles wieder gut, Anne.«
»Also schön«, sagte Anne ergeben. »Wenn Marilla kommt, werde ich ihr sagen, dass ich bereit bin.«
»Das freut mich sehr, Anne - wirklich! Aber sag Marilla nichts davon, dass wir miteinander geredet haben. Ich musste ihr versprechen, mich nicht in deine Erziehung einzumischen.«
»Keine zehn Pferde würden mir das Geheimnis entreißen«, versprach Anne feierlich. »Wie sollten Pferde überhaupt einem Menschen Geheimnisse entreißen, Matthew?«
Doch Matthew war schon gegangen. Er flüchtete in die hinterste Ecke der Pferdeweide, um auf keinen Fall bei Marilla Verdacht zu erregen, die wenige Augenblicke später ins Haus zurückkam.