»Oh, Diana«, brach Anne schließlich flüsternd das Schweigen, »meinst du ... meinst du, du könntest mich ein bisschen mögen .. . wenigstens so viel, um meine Busenfreundin zu sein?«
Diana lachte. Sie lachte fast immer, bevor sie sprach. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie offenherzig. »Ich bin riesig froh, dass du jetzt auf Green Gables wohnst. Es wird schön sein, jemanden zum Spielen zu haben. Die anderen Mädchen wohnen alle ziemlich weit weg und meine Schwestern sind noch nicht groß genug.«
»Willst du darauf einen heiligen Eid ablegen?«, war Annes nächste eifrige Frage.
Diana sah sie erstaunt an. »So etwas tut man doch nur vor Gericht.«
»Nein, das meine ich nicht. Es gibt nämlich zwei Sorten von Eiden, musst du wissen, und meiner heißt >heiliger Eid unter Freunden<.«
»Gut, ich habe nichts dagegen«, stimmte Diana zu. »Aber wie geht das?«
»Zuerst müssen wir uns bei der Hand nehmen . . . so«, sagte Anne ernst. »Eigentlich müssten wir es über einem fließenden Gewässer machen. Am besten stellen wir uns einfach vor, dieser Pfad hier wäre ein Bach. Ich schwöre den feierlichen Eid zuerst. Also: >Ich gelobe und verspreche feierlich, meiner Busenfreundin Diana Barry die Treue zu halten, solange sich die Erde dreht und Sonne und Mond am Himmel stehen.<Jetzt musst du das Gleiche sagen, aber natürlich mit meinem Namen als Busenfreundin.«
Diana wiederholte den >heiligen Eid< und fügte hinzu: »Du bist ein merkwürdiges Mädchen, Anne. Ich habe schon vorher gehört, dass du ein bisschen seltsam bist. Aber ich glaube, ich werde dich sehr gern mögen.«
Auf dem Heimweg wurden Marilla und Anne bis zur alten Holzbrücke von Diana begleitet. Die beiden Mädchen gingen Arm in Arm und beim Abschied verabredeten sie sich gleich für den nächsten Nachmittag.
»Nun, hast du in Diana eine >verwandte Seele< gefunden?«, fragte Marilla, als sie durch den Garten auf Green Gables zugingen.
»Oh, ja«, seufzte Anne, die die Ironie in Marillas Stimme nicht wahrgenommen hatte. »Marilla, ich bin im Moment das glücklichste Mädchen von ganz Prince Edward Island! Heute Abend werde ich mein Gebet aus vollstem Herzen sprechen, da kannst du ganz sicher sein. Diana und ich wollen morgen in Mr William Beils Birkenwäldchen ein kleines Spielhaus bauen. Ach, bitte, Marilla, kann ich die kaputten Porzellansachen aus dem Holzschuppen dafür haben? - Diana hat im Februar Geburtstag und ich im März - ist das nicht ein seltsamer Zufall? - Diana will mir ein Buch ausleihen. Sie sagt, es ist fürchterlich spannend. - Findest du nicht auch, dass Diana seelenvolle Augen hat? - Sie will mir auch ein paar Lieder beibringen, die ich noch nicht kenne, und mir ein Bild schenken, das ich in meinem Zimmer aufhängen kann. Es soll ein sehr schönes Bild sein, von einer Dame in einem blassblauen Seidenkleid. Sie hat es mal von einem Nähmaschinenvertreter bekommen. Ich wünschte, ich hätte auch etwas, was ich Diana schenken könnte! - An einem der nächsten Tage wollen wir zusammen zum Strand gehen und Muscheln sammeln und die Quelle unten an der Holzbrücke wollen wir den >Nymphenteich< nennen, ist das nicht ein wunderschöner Name? Ich habe mal eine Geschichte gelesen, in der ein Nymphenteich vorkam. Eine Nymphe ist so etwas wie eine erwachsene Seejungfrau, glaube ich.«
»Ich hoffe nur, dass du Diana kein Loch in den Bauch redest«, warf Marilla ein. »Und noch etwa solltest du bei all deinen Plänen bedenken, Anne: Du wirst nicht den ganzen Tag spielen können. Im Gegenteil, es gibt viele Arbeiten und Pflichten, die du zuerst erledigen musst.«
Doch diese Ermahnungen konnten Annes Glück nicht schmälern. Ihre Augen strahlten noch heller, als Matthew am Abend aus Carmody zurückkehrte, unbeholfen ein kleines Päckchen aus der Tasche zog und es ihr überreichte.
»Du hast doch mal gesagt, dass du Karamelbonbons magst. Ich habe dir welche mitgebracht!«, sagte er.
»Sie wird sich die Zähne und den Magen verderben!«, schnaubte Marilla. »Aber nun zieh doch nicht gleich so ein trauriges Gesicht, Kind. Da Matthew sie nun einmal mitgebracht hat, kannst du sie natürlich essen. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn er wenigstens Pfefferminzbonbons gekauft hätte, die sind viel gesünder. Iss sie nur ja nicht alle auf einmal!«
»Oh, nein, natürlich nicht«, sagte Anne eifrig. »Ich werde heute Abend nur eins essen, Marilla. Und ich darf Diana die Hälfte schenken, nicht wahr? Die andere Hälfte wird mir dann noch einmal so süß schmecken. Es ist so schön zu wissen, dass ich ihr jetzt auch etwas schenken kann!«
»Eins muss ich dem Kind lassen«, sagte Marilla, als Anne nach dem Abendessen in ihr Zimmer im Ostgiebel hinaufgegangen war, »es ist überhaupt nicht geizig. Darüber bin ich froh, denn geizige Kinder kann ich nicht ausstehen. Lieber Himmel, Matthew, es ist erst drei Wochen her, dass Anne zu uns kam, und es kommt mir so vor, als sei sie schon immer hier gewesen. Ich kann mir Green Gables gar nicht mehr ohne sie vorstellen! Schau jetzt nicht so, Matthew, als wolltest du sagen: >Siehst du, ich habe es dir ja gleich gesagt.. .< Ich gebe ja zu, dass ich froh bin, dass wir sie behalten haben, und dass ich sie lieb gewonnen habe - deshalb brauchst du es mir aber noch lange nicht ständig unter die Nase zu reiben, Matthew Cuthbert!«
12 - Vorfreude ist die schönste Freude
Anne hätte schon längst wieder hier sein müssen, um ihre Näharbeiten zu erledigen, dachte Marilla, schaute ärgerlich auf die Uhr und ging zum Fenster hinüber. »Sie hat mehr als eine halbe Stunde länger mit Diana gespielt, als ich es ihr erlaubt habe«, schimpfte sie vor sich hin, »und jetzt sitzt sie quietschvergnügt dort draußen auf dem Holzhaufen und unterhält sich mit Matthew, obwohl sie ganz genau weiß, dass hier Arbeit auf sie wartet. Und wie verzückt er ihr zuhört! Ich habe noch nie einen so vernarrten Mann gesehen. Je mehr sie redet und umso verrückter die Dinge sind, die sie sagt, desto begeisterter ist er. - Anne Shirley, du kommst sofort ins Haus, hörst du mich?!« Dabei klopfte Marilla laut an die Fensterscheiben.
Mit glänzenden Augen kam Anne in die Küche gelaufen. Ihre Wangen waren rot und ihre offenen Haare flatterten wie eine glänzende Fahne hinter ihr her.
»Oh, Marilla«, rief sie atemlos, »nächste Woche veranstaltet die Sonntagsschule ein Picknick auf Mr Marmon Andrews Feld gleich neben dem >See der glitzernden Wasser<. Die Frau von Superintendent Bell und Mrs Rachel Lynde wollen für uns Eiskrem machen - stell dir das vor, Marilla, Eiskrem! Ach, bitte, darf ich hingehen?«
»Schau lieber mal auf die Uhr, Anne. Was habe ich dir gesagt, wann du zu Hause sein sollst?«
»Um zwei. Aber ist das nicht herrlich mit dem Picknick, Marilla? Kann ich bitte hingehen? Ich bin noch nie auf einem Picknick gewesen. Ich habe schon von Picknicks geträumt, aber ich hätte nie gedacht. ..«
»Ich habe gesagt, du sollst um zwei Uhr zu Hause sein«, fuhr Marilla unbeirrt fort, »und jetzt ist es Viertel vor drei. Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig!«
»Ich wollte ja pünktlich sein, Marilla - so pünktlich, wie es nur geht. Aber du hast keine Ahnung, wie schön es auf >Idlewild< ist. Und dann musste ich Matthew ja noch von dem Picknick erzählen. Matthew ist ein einfühlsamer Zuhörer! Kann ich bitte hingehen?«
»Du musst lernen, den Verlockungen von Idle-Dingsbums zu widerstehen. Wenn ich dir sage, dass du zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein sollst, dann meine ich auch genau diese Uhrzeit und nicht eine halbe Stunde später. Deshalb sollst du dich auf deinem Heimweg auch nicht von >einfühlsamen Zuhörern< ablenken lassen. Und was das Picknick angeht, so kannst du natürlich daran teilnehmen. Du besucht schließlich regelmäßig die Sonntagsschule und ich werde dich nicht davon abhalten, wenn die anderen Mädchen auch alle hingehen.«
»Aber...« Anne zögerte. »Diana sagt, dass alle einen Korb voll Essen mitbringen sollen. Und du weißt ja, dass ich nicht kochen kann, Marilla, und ... es macht mir nichts aus, ohne Puffärmel zu einem Picknick zu gehen, aber es wäre ganz schrecklich, wenn ich ohne Korb hingehen müsste. Der bloße Gedanke daran quält mich schon, seitdem mir Diana davon erzählt hat.«