»Die Brosche ist aber nicht mehr auf der Kommode«, sagte Marilla. »Du musst sie mitgenommen haben, Anne.«
»Ich habe sie aber zurückgelegt«, entgegnete Anne schnell - zu schnell, wie Marilla fand. »Ich weiß bloß nicht mehr, ob ich sie wieder auf das Nadelkissen gesteckt oder in die Porzellanschale gelegt habe. Aber ich bin mir vollkommen sicher, dass ich sie zurückgetan habe.«
»Ich werde noch einmal suchen.« Marilla wollte nicht ungerecht sein. »Wenn du die Brosche zurückgelegt hast, muss sie ja noch da sein. Wenn sie nicht da ist, dann hast du sie mitgenommen.«
Marilla ging in ihr Zimmer und suchte noch einmal alles durch, nicht nur auf der Kommode, sondern auch an anderen Stellen, an denen die Brosche vielleicht hätte sein können. Doch sie war nirgends zu finden und so kehrte sie schließlich verärgert in die Küche zurück. »Anne, die Brosche ist weg, und du warst die Letzte, die sie in der Hand hatte. Also sag mir jetzt, was du damit getan hast. Und vor allem: Sag mir die Wahrheit! Hast du sie mit nach draußen genommen und dort verloren?«
»Nein«, antwortete Anne und sah dabei Marilla fest in die Augen. »Ich habe die Brosche nicht mit aus deinem Zimmer genommen, das ist die Wahrheit, auch wenn man mich dafür zum Richtblock schleifen würde - obwohl ich nicht so genau weiß, was ein Richtblock ist... Da wär’s, Marilla.«
Dieses >das wär’s< war von Anne lediglich als Bekräftigung gemeint, aber Marilla verstand es als Ausdruck von Trotz und Verstockheit. »Du sagst die Unwahrheit, Anne«, entgegnete sie schroff. »Deshalb will ich jetzt auch nichts mehr hören. Du gehst in dein Zimmer und bleibst so lange dort, bis du bereit bist, ein Geständnis abzulegen.«
13 - Ein fragwürdiges Geständnis
An jenem Abend versah Marilla ihre Aufgaben im Haushalt wie gewöhnlich, konnte jedoch keine innere Ruhe finden. Sie machte sich Sorgen um ihre wertvolle Brosche. Wenn Anne sie verloren hatte, würde man sie womöglich nie mehr wieder finden. Wie konnte die Kleine nur so ungezogen sein, den Diebstahl zu leugnen! Es war doch sonnenklar, dass sie die Brosche genommen haben musste! Und was für eine Unschuldsmiene sie dabei aufgesetzt hatte ... Hätte sie doch wenigstens die Wahrheit gesagt, dann wäre alles nur halb so schlimm gewesen. So aber war Anne eine Diebin und obendrein noch eine Lügnerin!
Mehrmals am Abend ging Marilla in ihr Zimmer hinauf und durchsuchte es noch einmal nach ihrer Brosche — vergebens. Auch eine weitere Befragung im Ostgiebel brachte keine neuen Ergebnisse. Anne stritt weiterhin ab, mehr über die Brosche zu wissen, als sie schon gesagt hatte, aber das machte Marilla nur noch misstrauischer.
Am nächsten Morgen erzählte sie Matthew, was vorgefallen war. Er konnte sich allerdings auch keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Er traute Anne nichts Böses zu, musste aber eingestehen, dass die Tatsachen gegen sie sprachen.
»Und du bist sicher, dass die Brosche nicht hinter die Kommode gefallen ist?« Das war die einzige Möglichkeit, die ihm noch einfiel. »Ich habe die Kommode von der Wand abgerückt, die Schubladen herausgezogen und wirklich überall nachgeschaut«, antwortete Marilla. »Die Brosche ist verschwunden und das Kind hat sie genommen und mich angelogen. Das ist nun mal die bittere Wahrheit, der wir ins Auge schauen müssen, Matthew Cuthbert.«
»Hm, tja ... und was willst du jetzt tun?«, fragte er mit tonloser Stimme, insgeheim froh, dass Marilla und nicht er für Annes Erziehung verantwortlich war; diesmal hatte er nicht die geringste Lust sich einzumischen.
»Sie wird so lange in ihrem Zimmer bleiben, bis sie gesteht«, sagte Marilla, die sich noch gut daran erinnern konnte, dass diese Methode in einem früheren Fall einmal erfolgreich gewesen war. »Dann werden wir ja sehen. Vielleicht könnten wir die Brosche sogar wieder finden, wenn Anne uns bloß sagen würde, wohin sie sie mitgenommen hat. Auf jeden Fall hat die Kleine eine empfindliche Strafe verdient, Matthew.«
»Hm, dann musst du sie bestrafen, Marilla«, sagte Matthew und griff nach seinem Hut. »Ich habe nichts mit ihrer Erziehung zu tun. Das hast du selbst gesagt.«
Marilla fühlte sich von allen im Stich gelassen. Sie konnte noch nicht einmal zu Mrs Lynde gehen und sie um Rat bitten. Mit ernstem Gesicht stieg sie ein letztes Mal zu Anne in den Ostgiebel hinauf, doch Anne blieb beharrlich bei ihrem früheren Standpunkt. Sie hatte offensichtlich geweint. Marilla empfand so etwas wie Mitleid, unterdrückte die Regung jedoch sogleich wieder.
»Du bleibst hier oben, bis du bereit bist zu gestehen, Anne. Überleg es dir gut«, sagte sie mit fester Stimme.
»Aber morgen ist das Picknick, Marilla«, schluchzte Anne. »Du wirst mich doch nicht hier einsperren wollen, oder? Lass mich nur für den Nachmittag gehen, bitte! Dann bleibe ich hier, solange du willst. Aber ich muss zu diesem Picknick gehen!«
»Du gehst weder zum Picknick noch sonst wohin, solange du nicht gestanden hast, Anne.«
»Bitte, Marilla!«
Aber Marilla war schon hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Am Mittwochmorgen strahlte die Sonne so warm, als wüsste sie, dass heute das große Picknick stattfinden sollte. Kein Wölkchen stand am Himmel. Die weißen Lilien verströmten ihren süßen Duft und die Vögel zwitscherten fröhlich und flatterten mit ihren Flügeln, als warteten sie darauf, Anne wie jeden Morgen am Fenster zu begrüßen. Doch Anne war nicht zu sehen. Als Marilla ihr das Frühstück brachte, saß sie mit steifer Haltung auf dem Bett und sah Marilla mit feuchten Augen an. Ihr Gesicht sah blass und entschlossen aus. »Marilla, ich bin bereit zu gestehen.«
»Aha!« Marilla stellte zufrieden ihr Tablett ab. Ihre Methode hatte zum zweiten Mal Erfolg gehabt - allerdings einen recht bitteren Erfolg, wie sich bald zeigen sollte. »Dann lass mal hören. Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?«
»Ich habe die Brosche genommen«, sagte Anne ruhig. Sie leierte die Worte so gleichgültig herunter, als hätte sie den Text vorher auswendig gelernt. »Als ich sie in deinem Zimmer liegen sah, konnte ich der Versuchung einfach nicht widerstehen: Ich nahm sie und steckte sie mir an die Brust. Dabei stellte ich mir vor, wie schön das sein müsste, sie mit nach >Idlewild< zu nehmen und mit ihr zu spielen. Mit einer Amethystbrosche würde es viel einfacher sein, mich in Lady Cordelia Fitzgerald zu verwandeln. Ich dachte, ich könnte sie wieder zurücklegen, bevor du nach Hause kommst. Als ich über die Brücke des >Sees der glitzernden Wasser< schritt, nahm ich die Brosche heraus, um sie noch einmal anzuschauen. Wie schön sie in der Sonne glitzerte! Und dann, gerade als ich mich über das Brückengeländer beugte, um mein Spiegelbild zu betrachten, fiel sie mir aus der Hand und versank in den Fluten. Dort liegt sie nun für immer auf dem Grund des >Sees der glitzernden Wasser<. - Und das ist das Beste, was du von mir als Geständnis erwarten kannst, Marilla. Ich habe mir große Mühe gegeben.«
Marilla fühlte einen bitteren Zorn in sich aufsteigen. Dieses Kind hatte ihre geliebte Amethystbrosche verloren und ratterte die ganze Geschichte mit tonloser Stimme herunter, ohne dabei die geringste Reue zu empfinden.
»Aber das ist ja schrecklich, Anne!«, sagte sie, nur mühsam beherrscht. »Du bist das ungezogenste Mädchen, von dem ich je gehört habe.«
»Ja, du hast Recht«, stimmte Anne ihr ruhig zu. »Und ich weiß, dass ich Strafe verdiene. Es ist deine Pflicht, mich zu bestrafen, Marilla. Willst du es nicht gleich tun? Dann haben wir es hinter uns und ich kann reinen Gewissens zum Picknick gehen.«
»Picknick? Das wäre ja noch schöner! Du gehst nicht zum Picknick, Anne Shirley. Das ist deine Strafe. Und sie ist für das, was du getan hast, noch lange nicht schwer genug.«