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»Nicht zum Picknick gehen!« Anne sprang auf und umklammerte Manilas Hand. »Aber du hast mir versprochen, dass ich gehen darfl Oh, Marilla, ich muss zu dem Picknick. Deshalb habe ich ja auch das Geständnis abgelegt. Bitte, Marilla, lass mich hingehen! Denk doch nur an die Eiskrem! Vielleicht habe ich in meinem ganzen Leben keine Gelegenheit mehr, Eiskrem zu essen.«

Doch Marilla zog ungerührt ihre Hand zurück.

»Das Bitten und Betteln kannst du dir sparen, Anne. Du gehst nicht zum Picknick und dabei bleibt es. Kein Wort mehr!«

Verzweifelt warf sich Anne auf ihr Bett und fing bitterlich an zu weinen.

Es war ein trauriger Morgen. Wie verbissen arbeitete Marilla vor sich hin. Sie schrubbte sogar den Boden der Veranda und die Bretter in der Milchkammer, obgleich sie eigentlich noch sauber waren - an irgendetwas musste sie ihren Zorn abreagieren. Dann ging sie hinaus und fegte den Hof.

Als es Zeit zum Mittagessen war, ging sie zur Treppe und rief nach Anne. Ein tränenüberströmtes Gesicht erschien über dem Geländer. »Ich will nichts essen«, schluchzte Anne. »Ich könnte keinen Bissen runterkriegen. Mein Herz ist nämlich gebrochen. Dein Gewissen wird dich eines Tages noch dafür bestrafen, dass du es zerbrochen hast, Marilla. Vielleicht werde ich dir dann verzeihen, aber verlange nicht von mir, dass ich jetzt etwas esse — schon gar nicht gekochtes Schweinefleisch und Blattgemüse. Das ist ein viel zu unromantisches Essen für den Zustand der Verzweiflung, in dem ich mich befinde.« Glühend vor Zorn ging Marilla in die Küche zurück und klagte Matthew ihr Leid. Doch ihrem Bruder - hin und her gerissen zwischen seinem Gerechtigkeitssinn und seinem Mitleid mit Anne - war ebenso jämmerlich zu Mute.

»Sie hätte die Brosche nicht nehmen und uns keine Lügengeschichte auftischen dürfen«, gab er zu, während er traurig auf sein unromantisches Schweinefleisch mit Blattgemüse starrte, »aber sie ist noch so klein. Meinst du nicht, dass du sie doch zum Picknick lassen solltest -wo doch ihr Herz so daran hängt?«

»Matthew Cuthbert, ich kann mich nur über dich wundern. Ich finde, ich habe sie noch viel zu milde bestraft. Und sie scheint nicht im Geringsten einzusehen, wie ungezogen sie war - das macht mir am meisten Kummer! Wenn es ihr wirklich Leid täte, wäre alles halb so schlimm. Und du versuchst auch noch sie in Schutz zu nehmen!«

»Sie ist doch noch so klein«, wiederholte Matthew mit sanfter Stimme. »Und wir müssen ihr einiges nachsehen, Marilla. Sie hat nie irgendeine Erziehung genossen.«

»Dann ist es höchste Zeit, dass sie sie jetzt bekommt«, erwiderte Marilla scharf.

Der Rest des Mittagessens verlief in eisigem Schweigen. Als sie das Geschirr gespült, den Brotteig angesetzt und ihre Hühner gefüttert hatte, erinnerte sich Marilla auf der Suche nach weiterer Beschäftigung an einen Riss in ihrem Spitzenschal und beschloss ihn zu flicken.

Der Schal befand sich in einer Schachtel in ihrem Kleiderschrank. Als Marilla ihn herauszog, fiel das Licht auf etwas Glitzerndes. Marilla hielt den Atem an - es war die Amethystbrosche!

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Als sie am Montagabend vom Frauenhilfswerk nach Hause gekommen war, hatte sie den Schal für ein paar Minuten auf die Kommode gelegt. Wahrscheinlich hatte sich die Brosche in den Spitzen verfangen und sie hatte sie - ohne es zu merken - mit dem Schal in den Schrank gepackt.

Mit der Brosche in der Hand stieg Marilla zum Ostgiebel hinauf. Anne saß niedergeschlagen am Fenster, sie war erschöpft vom vielen Weinen.

»Anne Shirley«, sagte Marilla feierlich. »Ich habe gerade meine Brosche wieder gefunden. Sie hatte sich in meinem schwarzen Spitzenschal verfangen. -Jetzt möchte ich aber wissen, was es mit dem Märchen auf sich hatte, das du mir heute Morgen aufgetischt hast.«

»Na, du hast doch gesagt, dass ich so lange hier bleiben müsste, bis ich ein Geständnis ablege«, erwiderte Anne matt. »Und da du die Wahrheit nicht geglaubt hast und ich unbedingt zum Picknick gehen wollte, habe ich mir gestern Abend im Bett ein Geständnis ausgedacht - etwas möglichst Interessantes. Dann habe ich es immer wieder vor mich hingesprochen, damit ich es nicht vergesse. Aber du hast mich trotzdem nicht zum Picknick gehen lassen, es war also alles umsonst.«

Marilla musste lachen. Gleichzeitig bekam sie heftige Gewissensbisse.

»Anne, du bist doch nicht zu schlagen! Aber ich habe dir Unrecht getan, das ist mir jetzt ganz klar. Ich hätte deine Ehrlichkeit nicht anzweifeln dürfen, weil ich dazu bisher noch nie Grund gehabt habe. Natürlich war es nicht richtig von dir, etwas zu gestehen, was du gar nicht getan hast. Aber ich habe dich dazu getrieben und das tut mir wirklich sehr Leid. Wenn du mir verzeihen willst, Anne, verzeihe ich dir auch - dann sind wir wieder quitt. Und jetzt mach dich schnell für das Picknick fertig.«

Wie eine Rakete sprang Anne aus ihrem Stuhl hoch. »Ist es denn noch nicht zu spät?«

»Nein es ist zwei Uhr. Die anderen haben sich gerade erst versammelt, du kannst es also noch schaffen. Wasch dein Gesicht, kämm deine Haare und zieh dein braunes Kleid an. Ich werde deinen Picknickkorb fertig machen und Jerry Bescheid sagen, damit er dich mit Pferd und Wagen zum Picknickplatz fahren kann.«

»Oh, Marilla«, rief Anne und sauste schnell wie der Wind zum Waschtisch hinüber. »Vor fünf Minuten war ich noch so traurig, dass ich wünschte, ich wäre nie geboren, und jetzt würde ich nicht einmal mit einem Engel tauschen wollen!«

An jenem Abend kehrte eine vollkommen glückliche und erschöpfte Anne nach Green Gables zurück.

»Es war ein himmlischer Tag, Marilla! Alles war wunderschön. Nach dem Essen ist Mr Andrews mit uns auf dem >See der glitzernden Wasser< rudern gegangen - immer sechs Mädchen in einem Boot. Jane Andrews ist fast über Bord gegangen. Sie wollte eine Seerose pflücken und hat sich so weit herausgebeugt, dass sie plötzlich das Gleichgewicht verloren hat. Wenn Mr Andrews sie nicht in allerletzter Minute festgehalten hätte, wäre sie ins Wasser gefallen und bestimmt jämmerlich ertrunken. Ich wünschte, das wäre mir passiert. Es muss so ein romantisches Gefühl sein, beinahe zu ertrinken! Und erst die Eiskrem! Mir fehlen die Worte, um diese Eiskrem zu beschreiben, Marilla. Ich schwöre dir, sie war einfach köstlich!«

Am Abend erzählte Marilla beim Strümpfestopfen ihrem Bruder, wie die ganze Geschichte ausgegangen war.

»Ich muss offen eingestehen, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagte sie nachdenklich. Dann schmunzelte sie. »Wenn ich an Annes >Geständnis< denke, muss ich lachen, obgleich es eine einzige faustdicke Lüge war! Eins ist sicher: Wo dieses Kind ist, wird es einem niemals langweilig werden.«

14 - Der Sturm im Wasserglas

»Was für ein herrlicher Tag!«, sagte Anne und atmete tief. »Ist es nicht wunderbar, an einem Tag wie diesem leben zu dürfen? Mir tun all die Leute Leid, die noch nicht geboren sind und ihn deshalb verpassen müssen. Natürlich werden auch sie schöne Tage erleben - diesen aber nie. Und was für einen prächtigen Schulweg wir haben!«

»Viel schöner als über die Landstraße, dort ist es so heiß und staubig«, antwortete Diana, während sie überlegte, wie viele Happen wohl für jeden übrig blieben, wenn man die drei Stück Himbeerkuchen, die ihre Mutter ihr mitgegeben hat, durch zehn teilte.

Die Schülerinnen von Avonlea pflegten ihre Pausenmahlzeiten nämlich immer zu teilen, und wenn man drei Stücke Himbeerkuchen ganz allein gegessen oder sie nur mit seiner besten Freundin geteilt hätte, wäre man für ewig als Geizhals abgestempelt worden.

Anne hatte bald für alle Stationen ihres Weges den passenden Namen gefunden. Jeden Morgen trafen sie sich in der >Liebeslaube<, einem verwunschenen Hohlweg, und gingen von dort aus weiter bis zum >Veilchental<, einer kleinen grünen Senke im Schatten der großen Bäume, die Mr Beils Felder begrenzten. Danach kam der >Birkenpfad<, eine kleine, gewundene Allee, die auf die Hauptstraße führte. Von dort aus bis zur Schule war es dann nur noch ein Katzensprung. Die Schule von Avonlea war ein weiß verputztes Gebäude mit flachem Dach und breiten Fenstern. Innen war sie mit stabilen, altmodischen Tischen mit aufklappbaren Schreibplatten ausgestattet, auf denen ganze Generationen von Schülern ihre Initialen und geheimen Mitteilungen hinterlassen hatten. Das Schulhaus lag etwas abseits der Straße. Dahinter floss ein kleiner Bach, in den die Kinder morgens ihre Milchflaschen stellten, damit sie bis zur Mittagspause kühl blieben. Marilla hatte Anne am ersten Tag nach den Ferien mit gemischten Gefühlen zur Schule geschickt. Wie würde Anne sich mit den anderen Kindern vertragen? Und würde sie es schaffen, eine ganze Unterrichtsstunde lang den Mund zu halten?