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Doch es lief besser als befürchtet. Strahlendster Laune kam Anne von ihrem ersten Schulbesuch zurück.

»Ich glaube, die Schule hier wird mir gefallen«, verkündete sie. »Den Lehrer finde ich allerdings nicht gerade besonders. Er zwirbelt die ganze Zeit an seinem Schnurrbart herum und macht Prissy Andrews schöne Augen. Prissy ist nämlich schon fast erwachsen, sie ist sechzehn und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College in Charlottetown vor. Sie hat eine ganz helle Haut und braunes hochgestecktes Haar. Der Lehrer sitzt meistens bei ihr in der langen Bank ganz hinten - um ihr bei den Aufgaben zu helfen, sagt er. Aber Ruby Gillis hat gesehen, wie er etwas auf Prissys Tafel schrieb, und als sie es las, hat sie gekichert und ist rot geworden wie eine Tomate.«

»Anne Shirley, ich möchte nicht, dass du so von deinem Lehrer sprichst«, fiel ihr Marilla streng ins Wort. »Er ist dazu da, dir etwas beizubringen, und es ist deine Aufgabe, von ihm zu lernen. Solche Geschichten möchte ich nicht wieder hören, das sage ich dir gleich, ich hoffe, du hast dich anständig benommen.«

»Ja, Marilla«, antwortete Anne mit gutem Gewissen. »Das war allerdings auch nicht so schwer, wie du es dir vielleicht vorstellst. Ich sitze neben Diana. Unsere Bank steht direkt am Fenster und wir können zum >See der glitzernden Wasser< hinüberschauen. Die anderen Mädchen sind sehr nett und wir hatten in der Mittagspause sehr viel Spaß miteinander. Es ist schön, so viele Spielkameradinnen zu haben. Diana habe ich natürlich am liebsten. - Ich muss viel nachholen, glaube ich, die anderen sind schon im fünften Buch und ich bin erst im vierten. Dafür haben die anderen aber nicht so viel Phantasie wie ich, das hat sich schnell herausgestellt. Heute hatten wir Lesen, Erdkunde, Geschichte und Diktat. Mr Philipp meinte, meine Rechtschreibung sei eine Schande und er hat meine Tafel in die Höhe gehalten, damit alle sehen konnten, wie viele Fehler er angestrichen hatte. Das war mir schrecklich peinlich, Marilla. Zu einer Fremden hätte er wirklich etwas höflicher sein können. - Ruby Gillis hat mir in der Pause einen Apfel geschenkt und Sophia Sloane hat mir eine wunderschöne rosa Karte geborgt, auf der steht >Darf ich dich nach Hause begleiten?<. Ich muss sie ihr allerdings morgen wieder geben. Den ganzen Nachmittag über durfte ich Tillie Boulters Perlenring tragen. Jane Andrews hat mir erzählt, sie habe gehört, wie Prissy Andrews zu Sara Gillis gesagt hat, ich hätte eine schöne Nase. Das ist das erste Kompliment, das ich in meinem ganzen Leben bekommen habe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein komisches Gefühl war! Marilla, findest du auch, dass ich eine schöne Nase habe? Ich weiß, du wirst mir die Wahrheit sagen.«

»An deiner Nase ist nichts auszusetzen«, antwortete Marilla trocken. Insgeheim dachte sie, dass Annes Nase tatsächlich bemerkenswert hübsch war, aber sie hatte nicht die geringste Absicht, ihr das mitzuteilen.

Dieses Gespräch lag schon drei Wochen zurück, als Anne und Diana an einem frischen Septembermorgen wieder den >Birkenpfad< hinuntergingen.

»Ich wette, Gilbert Blythe wird heute in der Schule sein«, sagte Diana. »Er hat den Sommer bei seinen Verwandten in New Brunswick verbracht und ist erst Samstagabend zurückgekommen. Er sieht schrecklich gut aus, Anne, und er neckt alle Mädchen. Manchmal ist es eine richtige Plage mit ihm.«

Dianas Tonfall ließ anklingen, dass ihr diese Plage eigentlich recht angenehm war.

»Gilbert Blythe?«, fragte Anne. »Ist das nicht der Name, der neben dem von Julia Bell an der Wand der Schulveranda steht?«

»Ja«, antwortete Diana und reckte stolz den Kopf in die Höhe, »aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er Julia Bell gar nicht so gerne hat. Ich habe ihn sagen hören, dass man an ihren Sommersprossen das kleine Einmaleins abzählen könnte.«

»Oh, erzähl mir nichts von Sommersprossen«, bat Anne. »Ich habe selbst genug davon. Außerdem finde ich es ziemlich albern, die Namen von Jungen und Mädchen zusammen an die Wand zu schreiben. Ich möchte doch mal sehen, wer es wagt, meinen dort aufzuschreiben - nicht, dass ich meine, dass überhaupt einer auf die Idee käme«, fügte sie, ein wenig traurig, schnell hinzu.

»Unsinn«, tröstete Diana ihre Freundin. »Es ist doch nur ein Scherz. Und sei dir mal nicht so sicher, dass dein Name nicht dort erscheinen wird. Charlie Sloane ist ganz vernarrt in dich. Er hat gesagt, du seist das gescheiteste Mädchen in der ganzen Schule. Gescheit zu sein ist viel mehr wert, als nur gut auszusehen.«

»Nein, das ist es nicht«, widersprach Anne. »Ich wäre viel lieber hübsch als klug. Und Charlie Sloane kann ich nicht ausstehen. Aber es ist schön, die Beste in der Klasse zu sein.«

»Jetzt wirst du es damit nicht mehr so leicht haben. Gilbert ist in deiner Klasse und bisher ist er immer der Beste gewesen. Er ist schon vierzehn. Sein Vater ist vor vier Jahren krank geworden und da musste er mit ihm nach Alberta ziehen und konnte drei Jahre lang nicht zur Schule gehen, bis sie letztes Jahr zurückkamen.«

Als sie sich später im Klassenraum über ihre Tafeln beugten und Mr Philipp damit beschäftigt war, Prissy Andrews in der letzten Bank lateinische Vokabeln abzuhören, flüsterte Diana: »Das ist Gilbert Blythe, Anne. Er sitzt gleich gegenüber von dir auf der anderen Seite des Ganges. Findest du nicht auch, dass er gut aussieht?«

Vorsichtig drehte Anne sich zu dem Jungen um. Er war gerade in die schwierige Aufgabe vertieft, heimlich die langen blonden Zöpfe von Ruby Gillis mit einer Nadel an ihrem Stuhl zu befestigen - mit Erfolg. Denn als Ruby Gillis aufstehen wollte, um mit ihrer Rechenaufgabe zum Lehrer zu gehen, fiel sie mit einem kleinen Schrei auf ihren Stuhl zurück. Alle drehten sich zu ihr um und Mr Philipps sah sie so vernichtend an, dass sie zu weinen anfing. Gilbert Blythe aber beugte sich mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt über seine Geschichtslektion. Als die Aufregung sich gelegt hatte, sah er zu Anne hinüber und zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Dein Gilbert Blythe sieht wirklich gut aus«, flüsterte Anne Diana zu, »aber ich finde es ziemlich frech von ihm, einem fremden Mädchen zuzuzwinkern.«

Der Morgen verlief ohne weitere Zwischenfälle. Erst am Nachmittag braute sich der große Sturm zusammen.

Mr Philipps erklärte gerade Prissy Andrews mit Inbrunst ein Algebraproblem, während seine Schüler überwiegend mehr oder weniger das taten, was ihnen gerade einfieclass="underline" Sie aßen grüne Äpfel, flüsterten mit ihrem Nachbarn, malten Bilder auf ihre Schiefertafeln oder schossen sich zwischen den Bänken kleine Papierbälle zu. Die ganze Zeit über versuchte Gilbert Blythe, Anne Shirleys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - jedoch ohne Erfolg. Anne war weit weg. Das Kinn auf beide Hände gestützt, den starren Blick auf die Landschaft jenseits des Fensters gerichtet, reiste sie durch ein schillerndes Traumland. Von dem, was um sie herum vorging, sah und hörte sie nichts.

Gilbert Blythe war nicht gewohnt, sich vergeblich um die Aufmerksamkeit eines Mädchens zu bemühen. Er wollte es ihr schon zeigen, diesem rothaarigen Geschöpf mit dem kleinen spitzen Kinn und den großen Augen, die so anders waren als die Augen all der anderen Mädchen in Avonlea. Gilbert lehnte sich über den Gang zu Anne hinüber, nahm einen ihrer roten Zöpfe in die Hand, hob ihn hoch und rief: »He, Karotte! Karotte!«