Matthew fürchtete sich vor Frauen. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass diese rätselhaften Geschöpfe sich heimlich über ihn lustig machten - womit er nicht unbedingt Unrecht hatte. Seine Bewegungen waren linkisch und mit seinen langen, grauen Haaren, den krummen Schultern und dem Schnurrbart, den er schon seit seinem zwanzigsten Lebensjahr trug, gab er ein ziemlich sonderbares Bild ab. Eigentlich hatte er mit zwanzig schon so ausgesehen wie jetzt mit sechzig - abgesehen von den grauen Haaren natürlich.
Als Matthew auf dem Bahnhof von Bright River ankam, war von einem Zug weit und breit nichts zu sehen. Der lange Bahnsteig war menschenleer; das einzige lebende Geschöpf war ein Mädchen, das ganz am anderen Ende auf einem großen Kieshaufen saß. Matthew, der vage wahrgenommen hatte, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte, schlich sich so schnell wie möglich an ihm vorbei, ohne es auch nur anzusehen. Hätte er genauer hingeschaut, wäre ihm der Ausdruck von Spannung und Hoffnung auf dem blassen Gesicht sicherlich nicht entgangen. Das Mädchen saß da und wartete auf irgendetwas. Und da es im Moment auch keine andere Möglichkeit hatte, sich zu beschäftigen, gab es sich eben voll und ganz dem Warten hin.
»Wird der Nachmittagszug pünktlich sein?«, erkundigte sich Matthew bei dem Stationsvorsteher, der gerade sein Büro abschloss und nach Hause gehen wollte.
»Der ist schon seit einer halben Stunde durch«, erwiderte der Vorsteher schroff. »Aber es ist nur ein Fahrgast ausgestiegen, der zu Ihnen gehört, ein kleines Mädchen. Es sitzt da draußen auf dem Kies. Mrs Spencer hat es abgesetzt und meint, es sei ein Waisenkind, das Sie und Ihre Schwester aufnehmen wollen.«
»Aber... ich erwarte kein Mädchen«, antwortete Matthew verblüfft, »ich bin gekommen, um einen kleinen Jungen abzuholen.«
»Tut mir Leid, mehr Waisenkinder habe ich nicht zu bieten.«
»Das versteh ich nicht«, wunderte sich Matthew weiter und wünschte, Marilla wäre hier, um die Situation in die Hand zu nehmen.
»Nun, am besten fragen Sie das Mädchen einmal selbst«, riet ihm der Stationsvorsteher ungerührt. »Die Kleine ist nämlich nicht auf den Mund gefallen. Vielleicht sind den Leuten im Waisenhaus die Jungen gerade ausgegangen.«
Damit ging der Mann heim zum Kaffeetrinken und ließ den unglücklichen Matthew stehen, der sich nun einer Aufgabe gegenübergestellt sah, die ihm schwerer schien als in einen Löwenkäfig zu steigen: Er musste auf ein Mädchen zugehen - noch dazu auf ein wildfremdes -und es fragen, warum es denn kein Junge sei. Seufzend wandte er sich um und schlurfte über den langen Bahnsteig auf das Kind zu, das ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte.
Es war etwa elf Jahre alt und trug ein sehr kurzes, sehr hässliches Kleid aus gelbgrauem Flanell und dazu einen verblichenen braunen Matrosenhut, unter dem zwei dicke rote Zöpfe herausschauten. Das schmale, blasse Gesicht dieses Mädchens, vor dem Matthew Cuthbert eine solche Heidenangst hatte, war mit Sommersprossen geradezu übersät.
Dass die großen graugrünen Augen vor Munterkeit und Lebenslust nur so sprühten und der Mund weiche, ausdrucksvolle Lippen besaß, entging Matthew zunächst.
Aber immerhin wurde ihm die Qual erspart, das Gespräch eröffnen zu müssen. Denn sobald die Kleine erkannt hatte, dass er auf sie zuging, stand sie auf, umfasste mit einer Hand den Griff einer schäbigen alten Reisetasche und streckte ihm die andere Hand entgegen.
»Sie müssen Mr Matthew Cuthbert sein«, sagte sie mit klarer, heller Stimme. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich hatte nämlich schon ein bisschen Angst, dass Sie nicht mehr kommen würden. Da habe ich mir überlegt, dass ich dann auf dem Kirschbaum dort unten die Nacht verbringen würde. Ich hätte überhaupt keine Angst gehabt. Es muss wundervoll sein, im silbernen Mondlicht auf einem blühenden Kirschbaum zu schlafen, finden Sie nicht auch? Man könnte sich vorstellen, man wäre in einer großen Marmorhalle. Und ich war mir ganz sicher: Wenn Sie heute Abend nicht gekommen wären, dann hätten Sie mich spätestens morgen früh abgeholt.«
Matthew drückte verlegen die schmale kleine Hand des Mädchens und fasste dabei einen inneren Entschluss: Er würde diesem Kind mit den leuchtenden Augen nichts von dem Missverständnis erzählen. Das sollte Marilla übernehmen, in Bright River konnte er die Kleine ja sowieso nicht zurücklassen, also konnten alle Fragen und Erklärungen genauso gut verschoben werden, bis er wieder sicher und geborgen auf Green Gables war.
»Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte er schüchtern. »Komm, das Pferd steht drüben im Hof. Gib mir deine Tasche.«
»Oh, die trage ich lieber selber«, antwortete das Kind fröhlich. »Ich habe alles darin, was ich auf dieser Welt besitze, aber schwer ist sie trotzdem nicht. Und wenn man sie nicht richtig anfasst, geht der Handgriff ab. Es ist eine uralte Reisetasche, wissen Sie. Ach, ich bin so froh, dass Sie gekommen sind, auch wenn es sicherlich schön gewesen wäre, in einem blühenden Kirschbaum zu übernachten. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, nicht wahr? Acht Meilen, sagte Mrs Spencer. Ich freue mich schon, ich reise nämlich für mein Leben gerne. Und es kommt mir fast wie ein Wunder vor, dass ich bei Ihnen leben und ganz zu Ihnen gehören darf. Ich habe noch nie irgendwo dazugehört - jedenfalls nicht richtig. Aber im Waisenhaus war es bisher am schlimmsten. Ich war zwar nur vier Monate dort, aber es war schon lange genug. Ich nehme an, Sie waren noch nie in einem Waisenhaus, deshalb können Sie sich auch nicht vorstellen, wie das ist. Es ist schlimmer als alles, was Sie sich vorstellen können. Dabei waren die Leute dort gut zu uns. Aber es gibt so wenig Raum für Phantasie - abgesehen vielleicht von den anderen Waisenkindern. Ja, man konnte sich vorstellen, dass das Mädchen neben einem in Wirklichkeit die Tochter eines echten Grafen ist, das als Säugling von einer grausamen Amme entführt wurde, die dann starb, bevor sie ein Geständnis ablegen konnte. Nachts bin ich oft wach geblieben und habe mir lauter solche Sachen ausgedacht, weil ich tagsüber dazu keine Zeit hatte. Vielleicht bin ich deshalb so dünn - ich bin furchtbar dünn, nicht wahr? Ich habe kein Gramm Fett auf den Knochen. Aber ich stelle mir oft vor, ich wäre hübsch und rund und hätte Grübchen in den Ellenbogen.«
Damit fand der Redefluss von Matthews Reisegefährtin zunächst einmal ein Ende. Die Kleine war etwas außer Atem geraten und außerdem hatten sie inzwischen die Kutsche erreicht. Jetzt kam kein Ton mehr über ihre Lippen, bis sie Bright River verlassen hatten und einen steilen Berg hinunterfuhren. Links und rechts vom Weg standen blühende Kirschbäume und schlanke Birken, deren Äste sich direkt über ihren Köpfen wiegten.
Das Kind streckte die Hand aus und brach sich einen Zweig mit weißen Blüten ab.
»Ist er nicht wunderschön? Woran hat Sie der weiße Baum erinnert, der sich da eben so weit über die Straße lehnte?«
»Hm, tja ... ich weiß nicht«, sagte Matthew.
»Na, an eine Braut natürlich - eine Braut in Weiß mit einem durchsichtigen Schleier. Ich habe zwar noch nie eine Braut gesehen, aber ich kann sie mir gut vorstellen. Allerdings glaube ich nicht, dass ich jemals selbst eine Braut sein werde. Ich bin so hässlich, mich will bestimmt niemand heiraten - höchstens irgendein Missionar vielleicht. Wer als Missionar in der Fremde lebt, ist vielleicht nicht so wählerisch, oder? Aber ich hoffe doch, dass ich eines Tages wenigstens ein hübsches Kleid bekommen werde. Das ist mein höchster Wunsch auf Erden. Ich hab mich heute Morgen nämlich fürchterlich geschämt, weil ich dieses schreckliche alte Flanellkleid tragen musste. Alle Waisenkinder tragen diese Dinger, wissen Sie. Ein Kaufmann in Hopetown hat dem Heim letzten Winter dreihundert Meter Flanellstoff geschenkt. Einige Leute sagen, das hätte er nur getan, weil er den Stoff nicht verkaufen konnte, aber ich glaube, er hat es bestimmt gut gemeint, finden Sie nicht auch? Als ich in den Zug stieg, hatte ich das Gefühl, dass alle Leute mich anstarrten und Mitleid mit mir hatten. Aber ich habe mir einfach vorgestellt, ich trüge ein wunderbares Kleid aus reiner blauer Seide - wenn man sich schon etwas vorstellt, dann soll es sich ja auch lohnen - und einen großen Hut mit Blumen und Federn und eine goldene Armbanduhr und weiße Lederhandschuhe und passende Stiefel. Da hab ich mich schon gleich viel besser gefühlt und konnte die Reise nach Leibeskräften genießen. Ach, die Überfahrt zur Insel war himmlisch! Auf dem Schiff gab es so viel zu sehen und ich wollte nichts verpassen. Wer weiß, ob ich in meinem Leben noch einmal die Gelegenheit habe, mit einem Schiff zu reisen . . . Oh, da drüben stehen noch mehr blühende Kirschbäume! Ich habe noch nie so ein Blütenmeer gesehen. Die Insel ist wirklich wunderschön. Ich bin so glücklich, dass ich hier leben darf. Ich habe schon oft sagen hören, Prince Edward Island sei das schönste Fleckchen Erde der Welt, und da habe ich gleich davon geträumt, dass ich dort einmal leben werde. Aber ich hätte nie gedacht, dass dieser Traum einmal Wirklichkeit werden sollte. Es ist schön, wenn Träume plötzlich wahr werden, finden Sie nicht? - Diese roten Wege sehen so lustig aus. Als wir mit dem Zug aus Charlottetown herausfuhren und die roten Wege an unserem Fenster vorbeiflogen, da habe ich Mrs Spencer gefragt, weshalb sie so rot sind, und die meinte, sie wisse es nicht und ich solle um Himmels willen aufhören, ihr so viele Fragen zu stellen. Mindestens tausend Stück hätte ich ihr schon gestellt. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Aber wie soll man Dinge herausfinden, wenn man keine Fragen stellt? - Wieso sind die Wege eigentlich rot, Mr Cuthbert?«