»Anne«, brach Marilla plötzlich das Schweigen, »Miss Stacy war heute Nachmittag hier, als du draußen mit Diana gespielt hast.«
Erschreckt fuhr Anne aus ihren Träumen hoch. »Wirklich? Oh, wie schade, dass ich nicht da war. Warum hast du mich nicht gerufen, Marilla? Was wollte sie denn?«
»Wir haben uns über dich unterhalten«, antwortete Marilla.
»Über mich?« Anne sah Marilla ängstlich an. Dann errötete sie und sagte schnelclass="underline" »Oh, ich weiß schon, was sie gesagt hat. Ich wollte es dir erzählen, Marilla - ehrlich! Ich habe es nur vergessen. Miss Stacy hat mich erwischt, als ich gestern Nachmittag in der Geschichtsstunde heimlich >Ben Hur< gelesen habe. Jane Andrews hat mir das Buch geliehen. Ich habe in der Mittagspause darin gelesen, und gerade als das Wagenrennen begann, hat es zur Stunde geschellt. Ich musste einfach wissen, wer das Rennen gewonnen hat, also las ich unter der Bank weiter. Es war so spannend, dass ich gar nicht bemerkte, wie Miss Stacy zu meinem Platz kam. Auf einmal stand sie neben mir und schaute mich vorwurfsvoll an. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich geschämt habe, Marilla - besonders, als ich auch noch Josie Pye kichern hörte. Miss Stacy hat mir >Ben Hur< weggenommen, aber gesprochen hat sie mit mir erst nach der Schule. Sie meinte, ich hätte wertvolle Zeit verschwendet, in der ich lieber hätte lernen sollen, und außerdem hätte ich versucht, meine Lehrerin zu täuschen. Es war mir furchtbar unangenehm, Marilla, und ich habe Miss Stacy angeboten, dass ich zur Strafe >Ben Hur< eine Woche lang nicht aufschlagen würde - noch nicht einmal, um zu schauen, wie das Wagenrennen ausgeht. Aber Miss Stacy meinte, das sei nicht nötig und sie würde mir auch so verzeihen und mir vertrauen, dass ich es nicht wieder tun würde. Deshalb finde ich es eigentlich nicht besonders nett von ihr, dass sie zu dir gekommen ist, um dir alles zu erzählen.«
»Sie hat diese Geschichte mit keinem Wort erwähnt, Anne. Es ist nur dein schlechtes Gewissen, das dich quält«, entgegnete Marilla. »Sie ist wegen einer ganz anderen Angelegenheit gekommen. Es geht darum, dass sie für ihre besten Schüler eine Art Zusatzunterricht einführen möchte, um euch auf die Aufnahmeprüfung für das Queen’s College vorzubereiten. Sie wollte Matthew und mich fragen, ob wir damit einverstanden sind, dass du daran teilnimmst. Was meinst du dazu, Anne? Würdest du gerne aufs Queen’s College gehen und Lehrerin werden?«
»Oh, Marilla!« Anne stand auf und klatschte begeistert in die Hände. »Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang - oder wenigstens seit sechs Monaten. Damals haben Ruby und Jane nämlich davon erzählt, dass sie an der Aufnahmeprüfung teilnehmen wollen. Ich habe euch bloß nichts davon gesagt, weil ich dachte, es hätte sowieso keinen Zweck. Ich würde so gerne Lehrerin werden! Aber wird das nicht fürchterlich teuer sein? Mr Andrews sagt, es hätte ihn einhundertfünfzig Dollar gekostet, Prissy dort unterzubringen - und Prissy ist keine Niete in Geometrie.«
»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Als Matthew und ich uns entschlossen haben dich aufzunehmen, haben wir uns geschworen, dass du es gut bei uns haben und auch eine ordentliche Ausbildung bekommen sollst, ich finde, dass ein junges Mädchen in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernähren - ob es das später einmal braucht oder nicht. Solange Matthew und ich da sind, wirst du auf Green Gables immer ein Zuhause haben, aber wer weiß, was noch geschieht . . . Man muss auf alles vorbereitet sein. Wenn du willst, kannst du also an Miss Stacys Zusatzunterricht teilnehmen.«
»Oh, Marilla, ich danke dir!« Anne schlang beide Arme um Marilla und sah ihr ernst ins Gesicht. »Ich bin dir und Matthew sehr dankbar. Und ich werde fleißig sein und alles tun, was ich kann, um euch Ehre zu machen. Allerdings muss ich euch warnen: In Geometrie dürft ihr nicht allzu viel von mir erwarten. In allen anderen Fächern kann ich aber bestimmt gut mithalten.«
»Du wirst es schon schaffen. Miss Stacy sagt, du seist klug und eifrig bei der Sache.« Nicht um alles in der Welt hätte Marilla Anne preisgegeben, was Miss Stacy wirklich gesagt hatte - damit hätte sie ja nur Annes Eitelkeit geschmeichelt. »Du brauchst dich also nicht ganz und gar in deinen Büchern zu vergraben. Es gibt keine Eile, weil du dich sowieso erst in anderthalb Jahren für die Aufnahmeprüfung anmelden kannst. Doch Miss Stacy meint, es sei gut, beizeiten mit der Vorbereitung zu beginnen und die Grundlagen zu legen.«
»Das Lernen wird mir von nun an noch viel mehr Spaß machen, weil ich jetzt ein Ziel habe«, sagte Anne strahlend. »Mr Allan sagt, jeder von uns sollte seinem Leben ein Ziel geben und es dann unbeirrt verfolgen. Allerdings müsste man erst einmal sicher sein, dass das Ziel auch gut und würdig ist. Aber Lehrerin zu werden - das müsste eigentlich ein würdiges Ziel sein, meinst du nicht auch, Marilla? Lehrerin ist ein so nobler Beruf!«
Kurze Zeit später hatten die Kandidaten für das Queen’s College ihre erste Unterrichtsstunde. Die Gruppe bestand aus Gilbert Blythe, Anne Shirley, Ruby Gillis, Jane Andrews, Josie Pye, Charlie Sloane und Moody Spurgeon MacPherson. Diana Barry durfte nicht mit dabei sein, ihre Eltern waren dagegen. Darüber war Anne sehr traurig. Seit der Nacht, in der sie Minnie May das Leben gerettet hatte, waren Diana und Anne sich nicht mehr von der Seite gewichen. Als sie Diana zum ersten Mal nach dem normalen Unterricht allein durch den »Birkenpfad« und das »Veilchental« nach Hause gehen sah, war es Anne, als könne sie auf ihrem Platz nicht sitzen bleiben, sondern müsse aufspringen und ihrer Freundin hinterherlaufen. Schnell versteckte sie sich hinter der großen lateinischen Grammatik, damit niemand ihre Tränen sehen konnte. Um keinen Preis sollten Gilbert Blythe oder Josie Pye sie weinen sehen!
»Ach, Marilla, ich meinte wirklich, >die Bitterkeit des Todes zu spüren<, wie Mr Allan am letzten Sonntag in seiner Predigt sagte«, erzählte sie Marilla am Abend. »Wie herrlich wäre es doch, wenn Diana sich auch auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten könnte. Aber auf dieser Welt kann man wohl nicht alles haben ... Ich glaube, der Zusatzunterricht wird mächtig interessant werden. Jane und Ruby wollen auch das Lehrerexamen machen. Ruby meint, sie wolle nach dem Examen nur ein oder zwei Jahre unterrichten und dann heiraten. Jane dagegen will sich ihr ganzes Leben lang der Schule widmen und unverheiratet bleiben. Als Lehrerin würde man wenigstens bezahlt, meinte sie, während ein Ehemann schon murrt, wenn die Frau ihren Anteil am Butter- und Eiergeld verlangt. Wahrscheinlich spricht Jane aus trauriger Erfahrung. Mrs Lynde sagt, ihr Vater sei ein schrecklicher alter Griesgram und geiziger als die Schotten. - Josie Pye will nur wegen der Bildung aufs College gehen. Sie habe es nicht nötig, später selbst Geld zu verdienen. Bei Waisenkindern, die auf die Nächstenliebe anderer angewiesen wären, sei das natürlich etwas anderes, meinte sie. Moody Spurgeon will Pfarrer werden. Ich hoffe, du denkst nicht schlecht von mir, wenn ich das sage, Marilla, aber wenn ich mir Moody Spurgeon als Pfarrer vorstelle, muss ich lachen. Er sieht aber auch zu komisch aus mit seinem runden Gesicht, seinen kleinen blauen Augen und den riesigen Segelohren. - Charlie Sloane will in die Politik gehen und Abgeordneter werden, aber Mrs Lynde sagt, das würde er nicht schaffen. Die Sloanes seien immer ehrliche Leute gewesen und heutzutage hätten in der Politik nur die größten Gauner eine Chance.«