»Und was hat Gilbert Blythe vor?«, wollte Marilla wissen, der nicht entgangen war, dass Anne bei ihrer Aufzählung einen Namen ausgelassen hatte.
»Ich habe keine Ahnung, welches Ziel Gilbert Blythe im Leben verfolgt - falls er überhaupt eins hat«, erwiderte Anne verächtlich. Zwischen Anne und Gilbert war mittlerweile eine offene Rivalität ausgebrochen. Früher war der Wettkampf eher nur von Annes Seite geführt worden, doch jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass auch Gilbert Blythe verbissen darum kämpfte, Klassenbester zu werden. Anne und Gilbert waren ebenbürtige Gegner. Die anderen Schüler erkannten die Überlegenheit der beiden an und dachten nicht im Traum daran, es mit ihnen aufzunehmen.
Seit dem Tag, als Anne am See Gilberts Bitte, ihm doch zu verzeihen, abgelehnt hatte, tat Gilbert seinerseits nun ebenfalls so, als würde es ein Mädchen namens Anne in Avonlea überhaupt nicht geben. Er redete und lachte mit den anderen Mädchen, tauschte Bücher und Puzzles mit ihnen aus, besprach den Unterricht und seine Pläne mit ihnen und begleitete ab und zu eines von ihnen nach der Schule nach Hause. Nur Anne Shirley überging er einfach; er behandelte sie wie Luft. Anne merkte, dass es nicht angenehm war, wie Luft behandelt zu werden. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass es ihr vollkommen egal sei. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es ihr keineswegs egal war und dass sie - wenn sie noch einmal die Möglichkeit gehabt hätte - mit Gilbert Freundschaft geschlossen hätte. Ihr Groll gegen ihn war wie weggeblasen, wie sie sich eingestehen musste. Auch wenn sie sich noch so oft in Erinnerung rief, wie tief er sie gekränkt hatte - seit dem Tag am »See der glitzernden Wasser« konnte sie den alten Zorn nicht mehr heraufbeschwören. Nachträglich sah Anne ein, dass sie die alte Geschichte schon längst vergessen und vergeben hatte, ohne es zu merken. Doch nun war es zu spät.
Wenn es sich schon nicht mehr ändern ließ, dann sollte wenigstens weder Gilbert noch sonst irgendjemand - ja, noch nicht einmal Diana - jemals erfahren, wie Leid es ihr tat. Sie beschloss ihre wahren Gefühle vor aller Welt zu verbergen, was ihr so gut gelang, dass Gilbert - dem Anne längst nicht so gleichgültig war, wie er vorgab - keinerlei Anzeichen dafür entdecken konnte. Seine Nichtbeachtung, die als bloße Rache gedacht war, schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sein einziger Trost bestand darin, dass Anne ihren Verehrer Charlie Sloane immer wieder gnadenlos vor den Kopf stieß.
Bei den täglichen Freuden und Pflichten verging der Winter schnell. Wie lauter goldene Perlen an einem langen Halsband erschienen Anne die prall gefüllten Tage, und ehe sie sich’s versehen hatte, kam auch schon der Frühling wieder und rings um Green Gables fing die Natur zu blühen an.
Zu dieser Zeit verlor selbst der interessanteste Unterricht seinen Reiz. Mit sehnsüchtigen Augen saßen die Schüler und Schülerinnen, die sich auf das College vorbereiteten, in ihrem Klassenzimmer und schauten aus dem Fenster, während die anderen Kinder schon draußen über die grünen Wiesen sprangen. Die lateinischen Verben und französischen Sätze hatten ihre Anziehungskraft verloren. Selbst Anne und Gilbert ließen in ihrem Lerneifer spürbar nach. Lehrerin und Schüler waren gleichermaßen froh, als das Schuljahr zu Ende war und die langen Sommerferien vor ihnen lagen.
»Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet«, sagte Miss Stacy am letzten Schultag, »und euch eine fröhliche, unbeschwerte Ferienzeit verdient. Ich hoffe, dass ihr in dieser Zeit für das nächste Schuljahr richtig Kraft schöpfen könnt. Dann wird es nämlich ernst: Das letzte Jahr vor der Aufnahmeprüfung beginnt.«
»Werden Sie nach den Ferien wieder kommen, Miss Stacy?«, fragte Josie Pye.
Diesmal waren ihre Mitschüler dankbar für Josies Neugierde, denn es hatte Gerüchte gegeben, dass Miss Stacy nicht als Lehrerin nach Avonlea zurückkehren würde, weil man ihr eine Stelle in ihrer Heimatstadt angeboten hatte. Gespannt hielten sie den Atem an.
»Ja, ich werde zurückkommen«, antwortete Miss Stacy. »Ich hatte zwar daran gedacht, an eine andere Schule zu gehen, aber dann habe ich mich doch dafür entschieden, in Avonlea zu bleiben. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe euch so ins Herz geschlossen, dass ich euch jetzt nicht im Stich lassen will. Ich werde euch bis zur Prüfung führen.«
»Hurra!«, rutschte es Moody Spurgeon heraus, der sich bisher selten eine Gefühlsregung hatte anmerken lassen. Gleich darauf wurde er knallrot und schaute beschämt vor sich hin.
»Ach, ich bin ja so froh!«, rief Anne mit glänzenden Augen. »Liebe Miss Stacy, es wäre zu schrecklich gewesen, wenn Sie nicht zurückgekommen wären. Ich glaube nicht, dass ich das überlebt hätte.« Am selben Abend noch verstaute Anne alle ihre Schulbücher in einem alten Koffer auf dem Dachboden, schloss ihn ab und versteckte den Schlüssel an einem sicheren Ort.
»Keine Angst, Marilla, ich werde sie nach den Ferien schon wieder herausholen. Aber diesen Sommer will ich nach Herzenslust genießen. Wahrscheinlich ist es der letzte Sommer, den ich noch als kleines Mädchen erleben werde. Mrs Lynde sagt, wenn ich weiter so in die Höhe schießen würde, müsste ich bald längere Kleider tragen! Und wenn ich längere Kleider trage, dann werde ich mich auch gleich viel erwachsener und ernster fühlen — das weiß ich jetzt schon. Ich fürchte, ich werde dann noch nicht einmal mehr an Feen glauben, Marilla. Deshalb bin ich fest entschlossen, es diesen Sommer noch einmal so richtig ausführlich zu tun. - Ach, es werden wunderbare Ferien sein! Ruby Gillis wird bald ihre Geburtstagsparty geben und nächsten Monat findet das Sonntagspicknick statt. Mr Barry will an einem Abend mit Diana und mir ins White Sands Hotel zum Essen ausgehen. Jane Andrews war letzten Sommer dort essen. Es muss ein wunderbares Erlebnis sein, all die elektrischen Lampen und die vornehmen Damen zu sehen. Jane meinte, sie würde noch auf ihrem Sterbebett daran denken.«
Am nächsten Tag kam Mrs Lynde nach Green Gables, um zu fragen, warum Manila beim letzten Mal nicht zur Versammlung des Frauenhilfswerks gekommen war. Wenn Manila dort nicht erschien, musste etwas nicht in Ordnung sein.
»Matthew hatte am Donnerstag wieder Flerzbeschwerden«, erklärte Manila, »und ich wollte ihn nicht alleine lassen. Es geht ihm jetzt schon wieder besser, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Der Doktor sagt, er müsse vorsichtig sein und dürfe sich nicht aufregen - als ob Matthew je in seinem Leben auf Aufregung aus war! Aber er hat auch gesagt, Matthew dürfe nicht mehr so hart arbeiten, und versuch du mal Matthew von der Arbeit abzuhalten - da könnte man ihm genauso gut das Atmen verbieten. Komm, setz dich doch, Rachel. Möchtest du nicht zum Tee bleiben?«
»Nun, da du mich so nötigst, kann ich wohl schlecht nein sagen«, antwortete Mrs Rachel, die freilich nie die geringste Absicht gehegt hatte, Marillas Einladung auszuschlagen.
Also setzten sich Mrs Rachel und Manila gemütlich in den Salon, während Anne den Tee aufgoss und selbst gebackene Kekse servierte, die hell und weich genug waren, um selbst vor Mrs Rachels gestrengen Augen bestens zu bestehen.
»Ich muss schon sagen, Anne hat sich zu einem sehr geschickten jungen Mädchen entwickelt«, gab Mrs Rachel zu, als Manila sie später noch bis zum Hohlweg begleitete. »Sie ist sicherlich eine große Hilfe für dich.«
»Ja, das stimmt«, sagte Marilla, »und sie ist sehr fleißig und zuverlässig geworden. Ich hatte schon Angst, sie würde diese Flausen nie loswerden, aber jetzt würde ich ihr in jeder Hinsicht vertrauen.«
»Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so mausern würde, als ich sie vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Mrs Rachel. »Liebe Güte! Ich werde nie vergessen, wie sie damals ihren Wutanfall bekam! An jenem Abend sagte ich zu Thomas: >Denk an meine Worte, Thomas. Marilla Cuthbert wird ihren Entschluss noch bitter bereuen.< Aber ich hatte Unrecht und ich bin froh darüber. Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, die ihre eigenen Fehler nicht eingestehen können nein, das war noch nie meine Art und ich danke dem Himmel dafür. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich Anne in Bausch und Bogen verurteilte. Allerdings war das auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was für eine seltsame, unberechenbare kleine Hexe sie war! Mit den normalen Methoden der Kindererziehung war ihr nicht beizukommen. Es ist unglaublich, wie sie sich in den letzten drei Jahren gemacht hat - besonders auch im Aussehen. Sie ist ein richtig hübsches Mädchen geworden, obgleich ich nicht sagen kann, dass blasse, großäugige Mädchen mein Typ Kind sind. Die brünetten, kräftigen Mädchen wie Diana Barry und Ruby Gillis gefallen mir besser. Aber es ist seltsam ... ich weiß nicht genau, wie das kommt, aber wenn Anne und sie zusammen sind, sehen die anderen beiden neben ihr gewöhnlich und irgendwie aufgedonnert aus. Sie ist wie eine kleine weiße Narzisse unter großen roten Pfingstrosen - jawohl!«