»Naja, dann musst du eben wieder zur Schule gehen und es nächstes Jahr noch einmal versuchen«, sagte Marilla gelassen.
»Oh, ich glaube nicht, dass ich das fertig brächte! Es wäre so eine Blamage, besonders wenn Gil . . . ich meine, wenn die anderen alle durchkommen. Und ich werde bei Prüfungen so schnell aufgeregt, dass ich vielleicht vor lauter Angst alles durcheinander bringe. Ich wünschte, ich hätte Nerven wie Jane Andrews. Die kann nichts aus der Ruhe bringen.«
Seufzend löste Anne ihren Blick von der verlockenden Frühlingspracht vor dem Fenster und wandte sich erneut ihren Büchern zu. Natürlich würde es auch nächstes Jahr wieder einen Frühling geben, doch sie war fest davon überzeugt: Wenn sie bei der Aufnahmeprüfung durchfiele, würde sie ihn nicht genießen können.
Ende Juni war es dann so weit. Mit dem Schuljahr endete auch Miss Stacys Dienst an der Schule von Avonlea. Niedergeschlagen gingen Anne und Diana nach ihrem letzten Schultag nach Hause. Ihre roten Augen und die feuchten Taschentücher waren ein deutliches Anzeichen daflir, dass Miss Stacys Abschiedsrede mindestens so bewegend gewesen war wie die von Mr Philipps drei Jahre zuvor. Bevor sie in den »Birkenpfad« einbogen, blieb Diana noch einmal stehen und wandte sich seufzend zum Schulhaus um.
»Es ist, als stürze eine Welt zusammen, nicht wahr?«, sagte sie traurig.
»Du hast es eigentlich noch gut«, schluchzte Anne und suchte verzweifelt nach einer letzten trockenen Stelle in ihrem Taschentuch. »Du wirst ja im Herbst wieder dort sein, aber ich muss die Schule für immer verlassen - das heißt, wenn ich bei der Prüfung Glück habe.«
»Aber es wird nie mehr so sein wie früher. Miss Stacy, du, Jane und Ruby - ihr werdet alle nicht mehr da sein. Ich werde alleine sitzen müssen, nach dir möchte ich keine andere Banknachbarin mehr haben. Ach, es war eine herrliche Zeit, nicht wahr, Anne? Was für ein schrecklicher Gedanke, dass das alles nun vorbei ist.«
Zwei dicke Tränen rollten über Dianas Gesicht.
»Hör doch bitte auf zu weinen, Diana«, bat Anne ihre Freundin flehentlich. »Jedes Mal, wenn ich dich schluchzen höre, kommen mir auch wieder die Tränen. Ich weiß nicht, wie oft ich mein Taschentuch schon hervorgeholt habe! Bestimmt werde ich nächsten Herbst sowieso wieder hier sein. In letzter Zeit überkommt mich immer öfter das ganz deutliche Gefühl, dass ich durchfallen werde.«
»Aber du hast doch bei der Probeprüfung glänzend abgeschnitten.«
»Ja, aber da bin ich auch nicht aufgeregt gewesen. Wenn ich an die richtige Prüfung denke, wird mir heiß und kalt und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich habe auch noch ausgerechnet die Nummer dreizehn gezogen. Josie Pye sagt, das könnte nur Unglück bringen. Ich bin nicht abergläubisch, aber es wäre mir doch lieber, wenn es nicht gerade die Dreizehn gewesen wäre.«
»Ich wünschte, ich könnte dich in die Stadt begleiten«, sagte Diana. »Wir hätten bestimmt eine wunderbare Zeit zusammen! Aber wahrscheinlich musst du abends sowieso pauken.«
»Nein, wir mussten Miss Stacy versprechen, unsere Bücher bis zur Prüfung nicht mehr aufzuschlagen. Sie meinte, das würde uns nur durcheinander bringen. Wir sollten lieber einen langen Spaziergang machen, so wenig wie möglich an die Prüfung denken und früh ins Bett gehen. Das ist zwar ein guter Ratschlag, aber bestimmt leichter gesagt als getan. Prissy Andrews hat mir erzählt, dass sie während der Prüfung die halbe Nacht wach im Bett gesessen und gepaukt hat, und eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es ihr gleichzutun und mindestens genauso lange aufzubleiben und zu lernen. Wie schön, dass ich bei deiner Tante Josephine wohnen kann, solange ich in der Stadt bin!«
»Du wirst mir doch schreiben, Anne, oder?«
»Ja, ich werde mich gleich am Dienstagabend hinsetzen und dir ausführlich vom ersten Tag berichten«, versprach Anne.
»Und ich werde am Mittwoch zum Postamt gehen«, gelobte Diana.
28 - Die Prüfungsergebnisse sind da
Als Diana am Mittwochmorgen zum Postamt lief, fand sie, wie versprochen, einen langen Brief von Anne vor.
Liebe Diana,
es ist Dienstagabend und ich sitze in der Bibliothek von Beechwood. Gestern Abend habe ich mich in meinem Zimmer furchtbar einsam gefühlt. Ich wünschte, du wärst bei mir gewesen! Gepaukt habe ich nicht mehr, weil ich Miss Stacy versprochen hatte, dass ich es nicht tun würde. Das war genauso schwer wie früher, wenn ich lernen musste und eigentlich viel lieber in einem spannenden Buch gelesen hätte.
Heute Morgen hat mich Miss Stacy hier abgeholt und wir sind zusammen zum College gefahren. Auf dem Weg haben wir noch Ruby und Josie aufgelesen. Rubys Hände waren eiskalt und Josie meinte, ich sähe aus, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Bestimmt wäre ich gar nicht kräftig genug, um das Collegestudium zu packen, selbst wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehen würde. Manchmal überkommt mich so ein Gefühl, dass ich Josie Pye immer noch nicht viel besser leiden kann als früher.
Vor dem College warteten schon jede Menge Schüler. Sie kamen aus allen Teilen der Insel. Als Erstes sahen wir Moody Spurgeon, der auf den Stufen vor dem Eingang saß und ständig vor sich hinmurmelte. Er sagte, er würde immer wieder das große Einmaleins aufsagen, um seine Nerven zu beruhigen, und wir sollten ihn um Himmels willen nicht unterbrechen. Wenn er auch nur einen Moment Pause machen würde, bekäme er solche Angst, dass er alles vergessen würde, was er jemals gelernt habe.
Als wir in die Prüfungsräume gerufen wurden, musste Miss Stacy uns verlassen. Ich saß neben Jane und beneidete sie um ihre Gelassenheit. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, das große Einmaleins hat die bestimmt nicht nötig! Ich fragte mich, ob ich wohl auch so aussah, wie ich mich fühlte, und ob die anderen mein Herz ebenso laut schlagen hören könnten wie ich. Dann kam ein Mann herein und verteilte die Zettel für die Englischprüfung. Meine Hände waren kalt wie Eis und mir wurde ganz schwindelig im Kopf, als er an meinen Platz kam. Ich habe mich genauso gefühlt wie damals, als ich Manila fragte, ob ich auf Green Gables bleiben dürfe. Aber dann wurde mein Kopf wieder klar, mein Herz fing wieder an zu schlagen - ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass es einen Augenblick lang stehen geblieben war! Ich sah mir die Aufgabe an und wusste dann gleich, dass ich wenigstens irgendetwas dazu zu sagen hatte.
Mittags gingen wir zum Essen nach Hause. Am Nachmittag war dann die Geschichtsprüfung dran. Die Aufgaben waren ganz schön schwierig, bestimmt habe ich alle Jahreszahlen durcheinander gebracht! Alles in allem glaube ich aber, dass ich heute einigermaßen gut abgeschnitten habe. Morgen ist allerdings Geometrie dran. Wenn ich daran denke, rutscht mir das Herz in die Hose. Vielleicht sollte ich es auch einmal mit dem großen Einmaleins versuchen...
Moody Spurgeon meinte, er wäre sich ganz sicher, dass er in Geschichte durchgefallen sei. Außerdem sei es viel einfacher, Zimmermann zu werden als Pfarrer. Ruby war völlig aufgelöst. Sie sagte, sie hätte in der Englischprüfung einen dicken Fehler gemacht. Die anderen Mädchen meinten, sie hätten es sicherlich auch nicht geschafft. Zum Trost sind wir alle in die Stadt gegangen und haben uns ein Eis geleistet. Wie gerne hätten wir dich dabeigehabt!