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29 - Ein Abend im White Sands Hotel

»Zieh dein neues weißes Kleid an«, riet Diana ihrer Freundin. Draußen dämmerte es; ein großer, noch fahler Vollmond stand über Green Gables. Die Luft war voller süßer Sommergeräusche: Die Vögel zwitscherten leise, die grünen Baumwipfel raschelten im lauen Wind und aus der Ferne waren Stimmen und fröhliches Gelächter zu hören. Doch Annes Fensterladen waren fest geschlossen. Hier im Zimmer fand gerade eine wichtige Abendtoilette statt.

Das Zimmer im Ostgiebel hatte sich sehr verändert, seit Anne vier Jahre zuvor dort ihre erste bange Nacht verbracht hatte. Langsam, aber stetig hatte sie sich in dem vormall kahlen Raum ein gemütliches kleines Nest eingerichtet.

Die Träume von Samtteppichen und rosa Seidengardinen waren freilich nicht in Erfüllung gegangen. Doch auch Träume verändern sich mit den Jahren und es ist wenig wahrscheinlich, dass Anne ihren früheren Wunschbildern nachtrauerte.

Eine hübsche Matte auf dem Fußboden und blassgrüne Musselingardinen an dem hohen Fenster waren an ihre Stelle getreten. Es gab zwar keinen goldenen Brokat, aber dafür schmückte eine einfache Tapete mit Apfelblütenmuster die Wände. Anne hatte einige Bilder aufgehängt, die ihr Mrs Allan geschenkt hatte. Miss Stacys Foto hatte einen Ehrenplatz auf Annes Kommode gefunden. Anne achtete sorgfältig darauf, die Vase davor immer mit frischen Blumen zu füllen. An jenem Abend waren es weiße Lilien, die den Raum mit einem zarten Duft erfüllten.

Anne und Diana machten sich gerade für ein Wohltätigkeitsfest fertig, das zu Gunsten des Krankenhauses von Charlottetown im White Sands Hotel stattfinden sollte, in der ganzen Umgebung hatte man nach jungen Talenten gesucht, die die Veranstaltung mit ihren Darbietungen unterstützen könnten. Berta Sampson und Pearl Clay vom Baptistenchor aus White Sands sollten ein Duett singen, Milton Clars aus Newbridge würde ein Geigensolo spielen und Winnie Adella Blair aus Carmody eine schottische Ballade zu Gehör bringen. Und Laura Spencer aus Spencervale und Anne Shirley aus Avonlea sollten Gedichte vortragen.

Dieses Fest war »ein Meilenstein« in Annes Leben — so hätte sie sich jedenfalls früher ausgedrückt und sie wusste sich vor Aufregung kaum zu fassen.

Matthew befand sich vor lauter Stolz über die Ehre, die seiner Anne zuteil werden sollte, im siebten Himmel, und Manila war nicht weniger glücklich, obgleich sie eher gestorben wäre, als dies offen zuzugeben.

Jane Andrew und ihr Bruder Billy wollten Anne und Diana abholen. Ganz Avonlea würde da sein - ja, es wurden sogar Zuschauer aus der Stadt erwartet. Nach den Darbietungen sollte es ein kaltes Buffet geben.

»Meinst du wirklich, ich soll das weiße Kleid anziehen?«, wollte Anne wissen. »Ich finde das blau geblümte schöner und das weiße ist nicht so modisch.«

»Dafür steht es dir aber besser«, erwiderte Diana. »Es ist so schön weich und fließend, das blaue sieht viel zu steif und vornehm aus. Du kannst dir eine weiße Schleife ins Haar binden und eine kleine weiße Rose, wenn du willst.«

Seufzend lenkte Anne ein. Diana hatte einen ausgezeichneten Geschmack, was Kleidung anging, und ihr Rat wurde stets befolgt.

»Soll ich meine Perlenkette tragen?«, fragte Anne nach einer Weile. »Matthew hat sie mir letzte Woche aus der Stadt mitgebracht. Ich weiß, er würde sie gerne an mir sehen.«

Diana schürzte die Lippen und neigte nachdenklich ihren Kopf, um sich schließlich zu Gunsten der Perlen zu entscheiden.

»Du hast so etwas Elegantes an dir, Anne«, stellte Diana neidlos fest. »Du siehst . . . anmutig aus. Wahrscheinlich ist es deine Figur. Ich glaube, ich bin einfach zu dick. Ich habe es schon immer befürchtet und jetzt weiß ich, dass es so ist. Naja, wahrscheinlich muss ich mich einfach damit abfinden.«

»Dafür hast du wunderschöne Grübchen«, entgegnete Anne. »Ich habe die Hoffnung auf Grübchen endgültig aufgegeben; dieser Traum wird wohl niemals in Erfüllung gehen. Aber es sind schon so viele meiner Träume wahr geworden, dass ich mich eigentlich nicht beklagen kann. - Was meinst du, bin ich jetzt fertig?«

»Ganz fertig«, versicherte Diana gerade, als Marilla das Zimmer betrat. »Kommen Sie nur herein, Miss Cuthbert, und schauen Sie sich Anne an. Sieht sie nicht wunderbar aus?«

»Hauptsache, sie macht sich das schöne Kleid nicht kaputt und erkältet sich nicht auf der langen Fahrt. Ich habe Matthew ja gleich gesagt, dass es furchtbar unpraktisch ist, aber er hört einfach nicht mehr auf mich. Wenn es darum geht, Anne etwas zu kaufen, schmeißt er mit dem Geld nur so um sich. Die Verkäufer in Carmody können ihm alles andrehen, sie brauchen ihm nur zu sagen: >Das ist zur Zeit modern.< -Pass auf, dass sich dein langes Kleid nicht in den Speichen verfängt, Anne, und nimm dir eine warme Jacke mit.«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ging wieder in ihre Küche hinunter. Äußerlich streng, war sie doch insgeheim stolz auf ihr kleines Mädchen, das in dem neuen Kleid so hübsch aussah und am Abend vor so vielen Leuten auftreten sollte.

»Bist du aufgeregt, Anne?«, fragte Diana.

»Kein bisschen. Ich habe inzwischen schon so oft Gedichte vorgetragen, dass es mir gar nichts mehr ausmacht. Zum Glück habe ich etwas Trauriges ausgewählt. Es fällt mir leichter, die Leute zum Weinen zu bringen als zum Lachen.«

»Hast du dir schon eine Zugabe überlegt, falls die Zuhörer eine fordern?«

»Sie werden nicht im Traum daran denken«, wehrte Anne ab, die sich insgeheim natürlich dennoch genau das Gegenteil erhoffte. Wie schön wäre es doch, Matthew am nächsten Morgen am Frühstückstisch von einem begeisterten Publikum berichten zu können! »Ich höre eine Kutsche kommen. Da sind Billy und Jane ja schon. Komm, schnell!«

Billy, ein dicklicher junger Mann um die Zwanzig mit einem ausdruckslosen Gesicht, bestand darauf, dass Anne vorne bei ihm auf dem Kutschbock saß. Etwas widerwillig nahm sie neben ihrem stillen Verehrer Platz; viel lieber hätte sie hinten bei den Mädchen gesessen. Auf der Straße waren schon viele Kutschen unterwegs und alle fuhren in Richtung White Sands. Überall waren fröhliches Gelächter und Geplauder zu hören.

Als sie in White Sands ankamen, war das Hotel bereits hell erleuchtet. Eine der Damen vom Wohltätigkeitsverein führte Anne gleich in die überfüllte Künstlergarderobe. Unter all den schillernden Persönlichkeiten aus der Stadt kam sich Anne jedoch plötzlich ganz klein und unbedeutend vor. Gegenüber den wertvollen Seidenstoffen, die überall um sie herum glänzten und raschelten, erschien ihr das weiße Kleid, das im Ostgiebel von Green Gables noch so hübsch und elegant gewirkt hat, auf einmal entsetzlich schlicht und unscheinbar. Was war ihre Perlenkette schon gegen die strahlenden Diamanten der großen Damen neben ihr? Und wie armselig wirkte ihre kleine weiße Rose im Vergleich zu den üppigen Blumenbuketts, die die anderen trugen! Anne legte ihren Hut und ihre Jacke ab und versteckte sich niedergeschlagen in einer dunklen Ecke. Inständig wünschte sie sich in ihr kleines Zimmer auf Green Gables zurück.

Auf der Bühne des großen Hotelsaales, auf der sie sich bald wiederfand, wurde ihr noch banger zu Mute. Das elektrische Licht blendete ihre Augen, das Parfüm und das laute Gemurmel um sie herum verwirrten ihre Sinne. Wie gerne würde sie jetzt bei Diana und Jane im Zuschauerraum sein und den Abend in Ruhe genießen können! Eingezwängt zwischen einer fülligen Dame in einem rosa Seidenkleid und einem großen, verächtlich dreinblickenden Mädchen in weißen Spitzen, saß Anne ängstlich da. Die füllige Dame drehte sich gelegentlich zur Seite und unterzog Anne durch ihre Brille einer so eingehenden Prüfung, dass Anne das Gefühl hatte, jeden Moment laut aufschreien zu müssen. Währenddessen unterhielt sich das Mädchen in weißen Spitzen lautstark mit ihrer Nachbarin über die »Bauerntölpel« und »Dorfschönheiten« im Publikum und sagte mit betont gelangweilter Stimme, die Darbietungen ländlicher Talente würden sicherlich »recht amüsant« werden. Anne meinte dieses Mädchen in seinen weißen Spitzen bis an das Ende ihres Lebens hassen zu müssen.