Zufälligerweise hielt sich gerade eine richtige Schauspielerin in White Sands auf. Sie hatte zugesagt, ebenfalls ein Gedicht vorzutragen. Die anmutige, dunkeläugige Frau trug ein wundervolles Gewand aus schimmernder grauer Seide - wie gewebte Mondstrahlen, dachte Anne - und glitzernde Juwelen. Sie hatte eine hervorragende Stimme und eine starke Ausdruckskraft. Das Publikum war begeistert und auch Anne vergaß einen Moment lang all ihre Ängste und lauschte mit leuchtenden Augen ihrem Vortrag. Doch als der Applaus einsetzte, vergrub Anne ihr Gesicht in den Händen. Nach diesem Vortrag konnte sie nicht auf die Bühne treten - nie und nimmer! Hatte sie wirklich jemals gedacht, sie könnte Gedichte vortragen? Ach, wenn sie doch nur schon wieder zurück auf Green Gables wäre!
Genau in diesem Moment wurde ihr Name aufgerufen. Wie in Trance stand Anne auf. Sie war so blass, dass sich Diana und Jane unten im Zuschauerraum vor Aufregung und Mitgefühl an der Hand fassten.
Anne hatte ganz entsetzliches Lampenfieber. So oft sie auch schon in der Öffentlichkeit aufgetreten war — vor einem solchen Publikum hatte sie noch nie gestanden. Ein einziger Blick hinunter in den Zuschauerraum genügte, um ihr die letzte Kraft zu rauben. Es war alles so fremd hier, so vornehm, so verwirrend: die langen Reihen von Damen in Abendkleidern, ihre erwartungsvollen Gesichter, die ganze Atmosphäre von Reichtum und Kultur, die sie um sich verbreiteten. Wie anders waren dagegen doch die Vortragsabende im Debattierclub gewesen - auf den schlichten Holzbänken hatte sie nur vertraute Gesichter von Freunden und Nachbarn gesehen. Hier jedoch würde sie auf gnadenlose Kritiker stoßen. Vielleicht waren sie alle - wie das Mädchen in den weißen Spitzen - nur darauf aus, sich über die »ländlichen Talente« lustig zu machen. Anne schämte sich, sie fühlte sich hilflos und unglücklich. Ihre Knie zitterten, ihr Herz pochte heftig und eine furchtbare Schwäche überkam sie. Kein Wort würde sie über die Lippen bringen! Am besten flog sie jetzt gleich von der Bühne, auch wenn dies eine schreckliche Niederlage bedeuten würde. Plötzlich fiel ihr unruhiger, ängstlicher Blick auf Gilbert Blythe, der im hinteren Teil des Zuschauerraumes saß und sie lächelnd anschaute - ein triumphierendes, höhnisches Lächeln, dachte Anne. Neben ihm saß Josie Pye und sah ebenfalls gespannt auf die Bühne. Annes Körper straffte sich. Sie nahm einen tiefen Atemzug und hob stolz den Kopf. Vor Gilbert Blythe würde sie sich keine Blöße geben! Sie würde ihm keine Gelegenheit geben, sie auszulachen - niemals! Ihre Angst wich und entschlossen begann sie mit ihrem Vortrag. Ihre klare Stimme erreichte auch noch die entlegenste Ecke des großen Saales, ohne dass ein Zittern darin zu bemerken gewesen wäre. Anne hatte ihre innere Ruhe wieder gefunden und als Reaktion auf die ausgestandene Angst fiel ihr Vortrag besser aus als je zuvor. Das Publikum belohnte sie mit einem donnernden Applaus. Als Anne, verlegen und glücklich zugleich, zurück zu ihrem Platz ging, drückte ihr die füllige Dame in dem rosa Seidenkleid herzlich die Hand.
»Das war wunderbar!«, verkündete sie. »Ich habe geweint wie ein Baby. Es wird immer noch geklatscht. Man will eine Zugabe von dir.«
»Ich kann nicht mehr«, sagte Anne verwirrt. »Und doch ... ich muss, sonst wird Matthew enttäuscht sein. Er hat gesagt, die Zuhörer würden sicherlich eine Zugabe verlangen.«
»Dann solltest du deinen Matthew auch nicht enttäuschen, finde ich«, sagte die Dame in Rosa lachend.
Mit glühenden Wangen ging Anne auf die Bühne zurück und trug ein weiteres Gedicht vor, das das Publikum in noch größere Begeisterung versetzte. Der Rest des Abends war ein einziger Triumph für sie.
Als die Darbietungen vorbei waren, nahm die füllige Dame - sie war die Frau eines amerikanischen Millionärs - Anne unter ihre Fittiche und stellte sie den anderen Gästen vor. Alle waren sehr nett zu ihr. Die Schauspielerin, Mrs Evans, kam zu ihr, um sich mit ihr zu unterhalten und ihr zu sagen, dass sie eine bezaubernde Stimme hätte. Selbst das Mädchen in den weißen Spitzen machte ihr ein Kompliment. Dann wurde im großen Speisesaal das kalte Buffet aufgetragen.
Anne seufzte tief, als sie Stunden später vor das Hotel trat und den klaren Himmel über den schwarzen Wipfeln der Tannen betrachtete. Wie gut die Stille der Nacht doch tat!
»War es nicht ein wunderbarer Abend?«, fragte Jane, als sie nach Hause fuhren. »Ich wünschte, ich wäre eine reiche Amerikanerin und könnte den ganzen Sommer in einem Hotel verbringen, Juwelen und tief ausgeschnittene Kleider tragen und jeden Tag Eiskrem und Geflügelsalat essen! Anne, dein Vortrag war einfach himmlisch — obgleich ich zuerst dachte, du würdest nie damit anfangen. Ich fand dich viel besser als Mrs Evans.«
»Oh, nein, sag so etwas nicht, Jane«, wehrte Anne ab. »Es klingt so albern. Ich könnte niemals besser sein als Mrs Evans. Sie ist eine richtige Schauspielerin — ich bin nur ein kleines Schulmädchen mit einer Schwäche für traurige Gedichte. Ich bin schon zufrieden damit, dass mein Vortrag den Leuten überhaupt gefiel.«
»Du hast übrigens ein richtiges Kompliment bekommen, Anne«, sagte Diana. »Jedenfalls meine ich, es kann nur als Kompliment gedeutet werden - nach dem Tonfall zu urteilen. Hinter Jane und mir saß nämlich ein Amerikaner, ein richtig gut aussehender Mann mit kohlrabenschwarzen Haaren und funkelnden Augen. Josie Pye meint, er sei ein bekannter Künstler, der Mann der Cousine ihrer Mutter sei mit ihm zur Schule gegangen. Auf jeden Fall hörten wir ihn sagen: >Wer ist das Mädchen mit den wundervollen tizianfarbenen Haaren? Sie hat ein Gesicht, das ich gern malen würde .. .< Da hast du es, Anne! -Was heißt >tizianfarben< überhaupt?«
»Übersetzt heißt es nichts anderes als >rot<«, lachte Anne. »Tizian war ein berühmter Maler, der am liebsten rothaarige Frauen malte.«
»Habt ihr die reichen Damen mit all ihren Diamanten gesehen?«, seufzte Jane. »Es muss wundervoll sein, wenn man reich ist!«
»Wir sind reich«, erwiderte Anne entschieden. »Wir sind sechzehn Jahre alt, wir sind glücklich - und wir haben Phantasie! Schaut euch das Meer an, wie es dort drüben silbrig schimmert - hell und doch voller Schatten und unergründlicher Geheimnisse. Selbst wenn wir Millionen Dollar und meterlange Diamantketten hätten - es könnte nicht schöner für uns sein. Wer von uns würde denn wirklich mit einer dieser reichen Damen tauschen wollen, Jane? Würdest du tatsächlich dieses Mädchen im weißen Spitzenkleid sein wollen und dein Leben lang mit einem sauertöpfischen Gesicht herumlaufen? Oder die Amerikanerin mit dem rosa Seidenkleid? Sie mag ja ganz nett sein, aber sie ist so schrecklich dick, dass man ihre Figur gar nicht mehr erkennen kann. Oder selbst Mrs Evans mit diesem abgrundtief traurigen Blick in den Augen? Sie muss in ihrem Leben furchtbares Leid erfahren haben, um einen solchen Blick zu bekommen. Ich weiß ganz genau, du würdest mit keiner von ihnen wirklich tauschen wollen, Jane Andrews!«
»Ich weiß nicht...«, antwortete Jane nicht ganz überzeugt. »Ich glaube, Diamanten können einen über eine ganze Menge hinwegtrösten.«
»Ich bin mir da jedenfalls ganz sicher. Auch wenn ich nie im Leben von Diamanten >getröstet< werde - ich bin Anne auf Green Gables, und ich bin damit zufrieden. Mag meine Perlenkette auch recht bescheiden wirken - ich weiß genau, dass Matthew sie mir mit mehr Liebe geschenkt hat, als alle Juwelen der Welt aufwiegen könnten.«
30 - Heimweh nach Green Gables
ln den nächsten drei Wochen wurden allerlei Vorbereitungen für Annes Jahr auf dem Queen’s College in Charlottetown getroffen. Es gab vieles zu besprechen und zu organisieren. Marilla war vor allem mit den Näharbeiten für Annes reichhaltige Ausstattung beschäftigt. Matthew hatte für einige neue, hübsche Kleider gesorgt und Marilla hatte gegen seine Käufe und Vorschläge keinerlei Einwände erhoben. Ja, eines Abends stieg sie sogar von sich aus mit einem Stück zarten, blassgrünen Stoffes die Treppe zum Ostgiebel hinauf.