Anne fragte sich gerade, ob selbst die traurigste Einsamkeit nicht vielleicht doch besser zu ertragen war als die Gesellschaft von josie Pye, als es abermals an der Tür klopfte und Jane und Ruby ins Zimmer traten. Da Josie nach einem Streit »kein Sterbenswörtchen« mehr mit Jane sprach, musste sie sich wohl oder übel in Schweigen hüllen. »Mir ist, als wären seit heute Morgen schon Monate vergangen«, seufzte Jane. »Eigentlich sollte ich zu Hause sein und meinen Vergil lesen - dieser fürchterliche alte Professor hat uns bis morgen zwanzig Zeilen aufgebrummt-, aber ich konnte mich heute Abend einfach nicht konzentrieren. Hast du geweint, Anne? Das tröstet mich. Ich war auch gerade in Tränen aufgelöst, als Ruby vorbeikam. -Ja, danke, ich nehme auch ein Stück Kuchen. Hm, das schmeckt so richtig nach Avonlea!«
Ruby sah das Jahrbuch des Colleges auf dem Tisch liegen und fragte, ob Anne vielleicht versuchen wollte, die Goldmedaille zu gewinnen? Anne errötete und gab zu, dass sie bereits daran gedacht hatte. »Das erinnert mich an etwas«, warf Josie ein. »Das Queen’s College soll eins der >Avery-Stipendien< bekommen. Frank Stockley hat es mir erzählt, sein Onkel ist nämlich im Direktorium. Morgen soll es bekannt gegeben werden.«
Ein Avery-Stipendium! Anne fühlte ihr Herz schneller schlagen. Wie von Geisterhand wurde der Horizont ihrer ehrgeizigen Träume um Meilen erweitert. Bisher war es Annes höchstes Ziel gewesen, nach einem Jahr das Lehrerexamen abzulegen und vielleicht die Goldmedaille zu gewinnen. Aber mit einem Avery-Stipendium ein richtiges Studium am Redmond College beginnen und in Talar und Doktorhut ein Zeugnis überreicht zu bekommen - das war freilich eine noch viel verlockendere Aussicht!
Ein reicher Fabrikbesitzer aus New Brunswick hatte vor einiger Zeit sein Vermögen einer Stiftung vermacht, die den erfolgreichsten College-Studenten aus der Provinz ein Studium ermöglichen sollte. Lange Zeit war es fraglich gewesen, ob das Queen’s College mit in den Kreis der auserwählten Bildungsanstalten aufgenommen werden sollte, doch jetzt war es eine beschlossene Sache. Wer die beste Note des Jahrgangs in der Englischprüfung erziele, sollte das Stipendium gewinnen: vier Jahre lang jeweils zweihundertfünfzig Dollar jährlich für ein Studium am Redmond College. Kein Wunder, dass Anne in jener Nacht mit glühend roten Wangen ins Bett stieg!
»Ich werde versuchen das Stipendium zu gewinnen, und wenn ich noch so hart dafür arbeiten muss«, nahm sie sich vor. »Wäre Matthew nicht stolz auf mich, wenn ich einen richtigen Titel bekäme? Ach, wie schön es ist, ehrgeizige Pläne zu haben! Irgendwie scheinen sie nie aufzuhören. Wenn man die eine Stufe erreicht hat, sieht man schon die nächste vor sich. Das ist es, was das Leben so interessant macht.«
31 - Das Jahr auf dem Queen’s College
Da Anne an den Wochenenden oft nach Hause fahren konnte, ließ ihr Heimweh langsam nach. Solange das Wetter gut genug war, fuhren die College-Studenten aus Avonlea jeden Freitag mit der neuen Eisenbahn nach Carmody. Diana und die anderen jungen Leute erwarteten sie schon am Bahnhof und in einer lustigen Schar ging es dann gemeinsam über die Felder nach Avonlea. Auf diese Freitagabende, an denen sie in der frischen Herbstluft über die gelben Stoppelfelder den Lichtern von Avonlea entgegenzogen, freute sich Anne schon die ganze Woche über.
Gilbert Blythe ging fast immer neben Ruby Gillis und trug ihre Tasche für sie. Ruby war zu einer hübschen kleinen Dame herangewachsen und bildete sich mächtig viel auf ihr Aussehen ein. Sie trug ihre Röcke so lang, wie es ihre Mutter nur erlaubte, und steckte in der Stadt bereits ihre Haare hoch, obwohl sie sich immer wieder umfrisieren musste, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte große hellblaue Augen, einen herrlichen Teint und eine auffallend gute Figur. Sie war immer fröhlich und ausgelassen und genoss das Leben in vollen Zügen.
»Ich glaube nicht, dass Gilbert Mädchen wie sie wirklich mag«, flüsterte Jane Anne zu.
Anne war der gleichen Meinung, sagte es aber nicht. Wie oft hatte sie schon im Stillen daran gedacht, dass es schön sein müsse, einen Freund wie Gilbert zu haben, mit dem sie scherzen und plaudern und Gedanken über Bücher und Pläne austauschen könnte. Gilbert hatte genauso ehrgeizige Pläne wie sie und Ruby Gillis schien nicht gerade die Person zu sein, mit der man solche Pläne ernsthaft besprechen konnte.
Wenn sie und Gilbert zusammen vom Bahnhof nach Hause gehen würden, dachte Anne, würden sie bestimmt die interessantesten Gespräche führen: über die neuen Welten, die sich ihnen auf dem College eröffneten, über ihre Hoffnungen und Pläne. Gilbert war klug und machte sich über vieles Gedanken. Ruby Gillis hatte Jane Andrews gestanden, dass sie die Hälfte von dem, was Gilbert ihr erzählte, gar nicht verstand - er würde genauso reden wie Anne Shirley, wenn sie einen ihrer Geistesblitze hatte. Sie für ihren Teil machte sich nichts aus Büchern und solchen Dingen. Frank Stockley sei da schon viel schneidiger, leider allerdings nur halb so hübsch wie Gilbert - sie könne sich einfach nicht entscheiden, welchen der beiden sie eigentlich lieber mochte!
Nach den Weihnachtsferien gaben die Studenten und Studentinnen aus Avonlea ihre Wochenendbesuche zu Hause auf und widmeten sich von nun an ganz ihrer Arbeit. Auf dem College hatten sich schon fest Grüppchen und Cliquen gebildet, in den Kursen hatte jeder einen seiner Leistung entsprechenden Platz eingenommen. Die Zahl der Anwärter auf die Medaille war auf drei geschrumpft: Gilbert Blythe, Anne Shirley und Lewis Wilson. Bei dem Aveiy-Stipendium war man sich nicht ganz so sicher. Sechs Personen wurden zum engen Kreis der Bewerber gerechnet - Anne war unter ihnen.
Aber auch die anderen Schüler aus Avonlea hatten ihre Erfolge zu verzeichnen: Ruby Gillis wurde zum hübschesten Mädchen des Jahrgangs gewählt, Jane Andrews schnitt als Beste beim Hauswirtschaftskurs ab und Josie Pye erlangte als scharfzüngigste junge Dame des Colleges eine gewisse Berühmtheit. Miss Stacys ehemalige Schüler hielten also in der Arena der akademischen Bildung durchaus ihre Stellung.
Anne arbeitete fleißig und zielstrebig. Ihre Rivalität mit Gilbert war genauso stark wie damals an der Schule von Avonlea, doch hatte sie einiges von ihrer Bitterkeit verloren. Anne wollte jetzt nicht mehr deshalb gewinnen, um Gilbert etwas heimzuzahlen, sondern um einen wohl verdienten Sieg über einen würdigen Gegner davonzutragen.
Die meisten ihrer freien Stunden verbrachte Anne auf Beechwood. Sonntags aß sie dort zu Mittag und ging mit Miss Barry zum Gottesdienst. Dianas Tante war, wie sie selbst sagte, spürbar älter geworden, doch ihre schwarzen Augen und ihre schnelle Zunge hatten nichts von ihrer Schärfe eingebüßt. Wenn sie auch noch so streng über andere Menschen urteilte - Anne war und blieb ihr unbestrittener Liebling.
»Die kleine Anne gefällt mir immer besser«, pflegte sie zu sagen. »Eigentlich finde ich kleine Mädchen schnell langweilig - sie sind sich alle so ähnlich. Anne aber hat so viele schillernde Farben wie ein Regenbogen und eine Farbe ist schöner als die andere! Zuerst fand ich sie nur amüsant, aber jetzt hat sie mein Herz gewonnen. Ich mag Leute, die mich dazu bringen, dass ich sie mag. Das erspart mir die Mühe, mich dazu zu zwingen, sie zu mögen.«