Es kam der Frühling. Draußen in Avonlea blühten die ersten Blumen und ein Hauch von Grün legte sich über die Wiesen und Wälder. Die College-Studenten in Charlottetown hatten jedoch nichts anderes im Sinn als die bevorstehende Prüfungen.
»In den letzten zwei Wochen habe ich sieben Pfund abgenommen«, seufzte Jane, als sie eines Abends mit den anderen Mädchen bei Anne zu Besuch war. »Andere Leute können mir tausendmal sagen: >Mach dir keine Sorgen< - ich mache mir ja doch welche. Ach, es wäre schrecklich, wenn ich durchfallen würde, wo das Jahr hier so viel Geld gekostet hat!«
»Mich kann das gar nicht rühren«, sagte Josie Pye. »Wenn ich dieses Mai durchfalle, komme ich eben nächstes Jahr wieder. Mein Vater kann es sich leisten. - Übrigens, Anne: Frank Stockley hat mir erzählt, Professor Tremaine hat gesagt, Gilbert Blythe würde wahrscheinlich die Medaille gewinnen und Emily Clay das Avery-Stipendium.«
»Darüber zerbreche ich mir erst morgen wieder den Kopf, Josie«, lachte Anne, die während des Gesprächs verträumt aus dem Fenster geschaut und die dicken Knospen an dem Kastanienbaum vor dem Fenster betrachtet hatte. »Im Moment habe ich das Gefühl, solange die Veilchen in der Senke unterhalb von Green Gables blühen und die kleinen Farnwedel in der >Liebeslaube< ihre Köpfe aus dem Gras stecken, ist es mir ganz egal, ob ich das Avery-Stipendium gewinne oder nicht. Lasst uns doch von etwas anderem sprechen! Seht euch den Himmel über den Häusern an und stellt euch vor, wie er sich wie eine blaue Glocke über den Buchenwäldern von Avonlea wölbt.«
»Was wollt ihr auf der Abschlussfeier tragen?«, lenkte Ruby das Gespräch wieder in weniger poetische Bahnen zurück.
Jane und Josie antworteten gleichzeitig, und es entspann sich ein munteres Gespräch über die verschiedenen Fragen der neuesten Mode. Anne beteiligte sich nicht an dem Geplauder der Mädchen. Beide Ellenbogen auf den Fenstersims gestützt, sah sie zum Fenster hinaus und hing ihren Zukunftsträumen nach. Das Leben lag vor ihr ausgebreitet wie ein verheißungsvoller, bunter Teppich, dessen Muster entworfen, aber noch längst nicht festgelegt war.
32 - Wieder zu Hause
An dem Morgen, an dem die Ergebnisse der Abschlussprüfung am großen Bekanntmachungsbrett vom Queen’s College ausgehängt werden sollten, gingen Jane und Anne gemeinsam die Straße hinunter. Jane lächelte glücklich: Die Prüfungen waren vorüber und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sie bestanden hatte. Alles weitere interessierte sie nicht. Sie war nicht besonders ehrgeizig; mit einem durchschnittlichen Ergebnis wäre sie vollauf zufrieden. Anne dagegen wirkte blass und still. Innerhalb der nächsten zehn Minuten würde sie erfahren, wer die Medaille und wer das Avery-Stipendium gewonnen hatte - über diese zehn Minuten hinaus mochte sie gar nicht denken.
»Eine der beiden Auszeichnungen geht bestimmt an dich«, tröstete Jane ihre Freundin. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass der Prüfungsausschuss eine andere Entscheidung treffen könnte. »Ich mache mir keine Hoffnungen auf das Stipendium mehr«, meinte Anne resigniert. »Alle sagen, Emily Clay würde es gewinnen. Nein, ich werde nicht zum Anschlagbrett gehen und vor allen anderen dumm dastehen. Bitte, lies du das Ergebnis und komm dann zu mir. Aber ich flehe dich im Namen unserer alten Freundschaft an, dich um Himmels willen zu beeilen. Wenn ich durchgefallen bin, dann sag es mir gleich, ohne drum herumzureden und es mir schonend beibringen zu wollen. Und was immer auch passiert: Hab kein Mitleid mit mir. Willst du mir das versprechen, Jane?«
Jane gelobte es feierlich - was allerdings gar nicht nötig gewesen wäre, wie sich bald herausstellte. Als die beiden nämlich die breiten Stufen zum Queen’s College hinaufliefen, kamen ihnen die Jungen ihres Jahrgangs schon jubelnd entgegen. Auf ihren Schultern trugen sie Gilbert Blythe. »Hoch, Gilbert Blythe, der Gewinner der Goldmedaille!«
Dieser Anblick versetzte Anne einen kurzen, heftigen Stich der Enttäuschung. Gilbert hatte sie geschlagen! Was würde Matthew dazu sagen? Er war sich so sicher gewesen, dass seine Anne als Beste abschneiden würde.
Plötzlich rief jemand laut: »Ein dreifaches Hoch auf Anne Shirley, die Gewinnerin des Avery-Stipendiums!«
»Oh, Anne«, flüsterte Jane, »ich bin ja so stolz auf dich! Ist das nicht wunderbar?«
Anne wurde umringt und mit Glückwünschen nur so überschüttet. Alle wollten ihr auf die Schulter klopfen und ihr die Hand schütteln. >Wie werden sich Matthew und Marilla freuen!<, dachte sie im Stillen. >Ich muss es ihnen gleich heute noch schreiben.<
Eine Woche später fand die Abschlussfeier in der großen Halle des Colleges statt. Es wurden verschiedene Ansprachen gehalten, Aufsätze verlesen und Lieder gesungen. Anschließend gab es eine öffentliche Verleihung der Zeugnisse, Preise und Medaillen.
Matthew und Marilla waren eigens zur Feier in die Stadt gekommen. Dabei interessierten sie die Darbietungen auf der Bühne gar nicht besonders. Sie hatten nur für Anne Augen und Ohren und lauschten wie gebannt, als sie den besten Aufsatz vorlas und man sich im Publikum zuflüsterte, dies sei die Gewinnerin des Avery-Stipendiums.
»Jetzt bist du doch auch froh, dass wir sie damals behalten haben, nicht wahr, Marilla?«, fragte Matthew seine Schwester leise.
»Es ist nicht das erste Mal, das ich darüber froh bin«, versetzte Marilla. »Du willst mir das wohl wieder einmal aufs Butterbrot schmieren, Matthew Cuthbert!«
Miss Barry, die eine Reihe hinter ihnen saß, lehnte sich nach vorne und piekte Marilla mit ihrem Sonnenschirm in den Rücken. »Sind Sie auch so stolz auf die kleine Anne wie ich?«, fragte sie.
An jenem Abend fuhr Anne mit Matthew und Marilla nach Avonlea. Seit April war sie nicht mehr zu Hause gewesen und sie hatte das Gefühl, sie könnte auch nicht einen Tag länger warten. Diana begrüßte sie am Tor von Green Gables. Zusammen gingen sie in Annes Zimmer, wo Marilla eine blühende Zimmerrose auf die Fensterbank gestellt hatte. Anne sah sich glücklich um und ließ einen Seufzer hören. »Oh, Diana, es ist so schön, wieder hier zu sein, den Obstgarten und die gute, alte >Schneekönigin< zu sehen - und vor allem dich, Diana!«
»Ich dachte schon, du hättest deine Freundinnen in der Stadt lieber als mich«, sagte Diana vorwurfsvoll. »Josie Pye hat mir erzählt, wie viele Freundinnen du hast. Sie meinte, du seist ganz vernarrt in sie.«
»Ach, Diana«, lachte Anne, »du bist und bleibst meine einzige Busenfreundin, das weißt du doch! Ich habe dir so viel zu erzählen. Aber jetzt möchte ich am liebsten nur hier sitzen und dich anschauen. Ich bin müde, glaube ich - müde von der Arbeit und all der Aufregung. Morgen werde ich zwei geschlagene Stunden damit verbringen, unten im Obstgarten im Gras zu liegen und an gar nichts zu denken.«
»Du hast die Prüfungen glänzend bestanden, Anne. Aber jetzt, wo du das Avery-Stipendium gewonnen hast, wirst du doch sicherlich nicht als Lehrerin an die Schule gehen, oder?«
»Nein, ich gehe im September auf das Redmond College. Ist das nicht wunderbar? Nach drei langen, goldenen Monaten hier werde ich wahrscheinlich auch wieder genug Kräfte gesammelt haben, um mich auf das Studium zu freuen. Jane und Ruby wollen gleich eine Stelle als Lehrerin annehmen. Ist das nicht herrlich, dass wir es alle geschafft haben, sogar Moody Spurgeon und Josie Pye?«
»Jane hat schon die Schule in Newbridge angeboten bekommen«, erzählte Diana. »Gilbert Blythe wird ebenfalls unterrichten. Sein Vater kann es sich nicht leisten, ihn im nächsten Jahr weiterstudieren zu lassen, Gilbert muss jetzt selbst Geld verdienen. Wahrscheinlich wird er die Schule in Avonlea bekommen, wenn Miss Anne tatsächlich nach Redmond geht.«
Überrascht stellte Anne fest, dass diese Neuigkeit sie enttäuschte. Sie hatte erwartet, Gilbert würde ebenso wie sie im Herbst in Redmond weiterstudieren. Was sollte sie ohne ihren alten Rivalen dort anfangen? Würde das Lernen ihr dann überhaupt noch Spaß machen?