»Liebe Anne, möchtest du, dass ich heute Nacht bei dir schlafe?«
»Vielen Dank, Diana.« Anne sah ihre Freundin ernst an. »Ich weiß, du wirst mich nicht missverstehen, wenn ich dir sage, dass ich lieber alleine bleiben möchte. Ich habe keine Angst. Seitdem es passiert ist, bin ich keine einzige Minuten zur Ruhe gekommen und ich sehne mich so danach. Ich möchte ganz still sein und versuchen zu verstehen, dass es tatsächlich wahr ist. Das ist das Schwierigste von allem. Matthew kann doch nicht einfach tot sein! Und dann wieder kommt es mir vor, als wäre er schon lange, lange tot und der Schmerz in meiner Brust währt bereits eine ganze Ewigkeit.«
Diana konnte Anne nicht ganz folgen. Marillas leidenschaftliche Trauer, die alle Bande ihrer sonstigen Zurückhaltung brach, war ihr leichter verständlich als Annes starre, tränenlose Qual. Doch sie zog sich still zurück und überließ Anne der Einsamkeit, die sie sich gewünscht hatte.
Anne hatte gehofft, dass ihre Tränen sich endlich lösen würden, wenn sie allein wäre. Es kam ihr so schrecklich vor, dass sie nicht eine Träne für Matthew vergießen konnte. Sie hatte ihn so sehr geliebt, er war immer so gut zu ihr gewesen! Am vorigen Abend noch waren sie zusammen zur Weide gegangen - und jetzt lag er tot im Zimmer unter ihr! Doch Anne konnte nicht weinen. Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu und verzweifelte Gedanken quälten sie, bis sie schließlich vor Erschöpfung einschlief.
Mitten in der Nacht wachte sie wieder auf. Das Haus lag in tiefem Schweigen, um sie war alles finster. Die Erinnerung an die traurigen Ereignisse des Vortages überschwemmten sie wie eine große Welle. Sie sah Matthew vor sich, wie er sie am Abend zuvor sanft angelächelt hatte. Sie hörte ihn sagen: »Mein Mädchen - mein Mädchen, auf das ich stolz bin.« Endlich wollten ihre Tränen fließen und sie begann bitterlich zu weinen.
Marilla, die sie gehört hatte, kam nun leise herein, um Anne zu trösten. »Komm, komm, weine nicht, mein Liebes. Deine Tränen können Matthew ja doch nicht wieder lebendig machen.«
»Bitte, Marilla, lass mich weinen«, schluchzte Anne. »Die Tränen tun längst nicht so weh wie dieser furchtbare Schmerz. Bleib doch ein bisschen bei mir und leg deinen Arm um mich. Ich wollte nicht, dass Diana hier schläft. Sie ist meine Busenfreundin, aber es ist nicht ihr Kummer, sie kann ihn nicht ganz mit mir teilen. Es ist unser Kummer, Marilla - deiner und meiner. Ach, was sollen wir nur ohne Matthew anfangen?«
»Wir haben uns, Anne. - Ach, ich wüsste gar nicht, was ich tun sollte, wenn du nicht hier wärst. .. wenn du nie zu uns gekommen wärst. Ich weiß, ich war oft zu streng zu dir, aber du darfst nicht denken, dass ich dich weniger liebe als Matthew dich geliebt hat. Es ist mir noch nie leicht gefallen, über meine Gefühle zu sprechen, aber in einer Zeit wie dieser ist es einfacher. Ich liebe dich wie mein eigen Fleisch und Blut. Du bist mein Trost und meine Freude - seit dem Tag, an dem du nach Green Gables gekommen bist.«
Zwei Tage später wurde Matthew Cuthbert in seinem Sarg über die Schwelle seines Vaterhauses getragen - entlang den Feldern, die er bestellt hatte, vorbei an dem Obstgarten, den er so geliebt, und den Bäumen, die er gepflanzt hatte - zum Friedhof von Avonlea.
Dann kehrte in der kleinen Ortschaft am St.-Lorenz-Golf wieder der Alltag ein. Selbst auf Green Gables verlief bald alles wieder in den gewohnten Geleisen: Jeden Tag gab es Arbeiten zu erledigen und Pflichten zu erfüllen. Doch bei allem war das Gefühl gegenwärtig, einen schmerzhaften Verlust erlitten zu haben.
Anne spürte diesen Verlust so deutlich, dass sich ihr Gewissen regte, wenn der Anblick des Sonnenaufgangs hinter den Tannen oder der einer besonders schönen Blume sie glücklich machen konnte, wenn sie sich über Dianas Besuche freute oder Diana sie mit einem Scherz zum Lachen brachte — kurz, wenn sie merkte, dass die Welt nichts von ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung verloren hatte.
»Es kommt mir vor, als würde ich Matthew betrügen, wenn ich an all diesen Dingen Freude finde, obwohl er nicht mehr bei uns ist«, gestand sie eines Tages Mrs Allan. »Ich vermisse ihn sehr... und trotzdem ist das Leben schön. Heute hat Diana etwas Komisches gesagt und ich musste plötzlich laut loslachen. Dabei habe ich noch vor kurzem gedacht, dass ich nie wieder lachen könnte.«
»Matthew war immer am glücklichsten, wenn du gelacht hast und froh und zufrieden warst, liebe Anne«, antwortete Mrs Allan sanft. »Heute war ich auf dem Friedhof und habe einen Rosenstrauch auf Matthews Grab gepflanzt«, erzählte Anne verträumt. »Ich habe für ihn einen Ableger von dem weißen Rosenstrauch gezogen, den seine Mutter vor langer Zeit aus Schottland mitgebracht hat. Matthew hat diese Rosen immer am liebsten gehabt, sie sind ganz klein und duften wunderbar süß. Ich war sehr froh, dass ich den Strauch auf sein Grab pflanzen konnte — es war, als wüsste ich, dass es ihm gefallen würde, seine Lieblingssrosen bei sich zu haben. Aber jetzt muss ich gehen. Marilla wartet sicher schon auf mich. Wenn es dunkel wird, fühlt sie sich immer so einsam.«
»Sie wird noch einsamer sein, wenn du aufs College gehst, fürchte ich«, sagte Mrs Allan.
Anne gab keine Antwort. Sie verabschiedet sich und ging nachdenklich zurück nach Green Gables. Marilla saß auf den Stufen zur Veranda. Anne pflückte sich einen Zweig von dem blassgelben Geißblatt, steckte ihn sich ins Haar und setzte sich neben sie.
»Doktor Spencer war hier, während du fort warst«, sagte Marilla.
»Morgen kommt der Augenspezialist in die Stadt und er will, dass ich mir von ihm die Augen untersuchen lasse. Ich glaube, es wird wohl am besten sein, wenn ich hingehe, dann habe ich es hinter mir. Vielleicht kann er mir wirklich helfen. Dir macht es doch nichts aus, morgen allein hierzubleiben, oder? Es gibt noch einiges zu bügeln und zu backen, wie ich das so sehe.«
»Ich werde schon zurechtkommen, Diana wird mir bestimmt Gesellschaft leisten. Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen - ich werde schon nicht aus Versehen Diana betrunken machen oder den Kuchen mit Rheumamittel würzen. - Heute nicht mehr.«
Marilla lachte. »Ach, was hast du damals nicht alles angestellt, Anne! Ständig ist bei dir irgendetwas schief gelaufen. Sicher weißt du noch, wie du dir deine Haare grün gefärbt hast?«
»Ja, sehr gut sogar. Wie könnte ich das vergessen?« Anne schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Ich muss jetzt manchmal ein wenig lachen, wenn ich daran denke, wie viele Sorgen ich mir über meine Haarfarbe gemacht habe - aber ich lache nicht allzu sehr, weil ich noch gut weiß, dass mein Kummer wirklich aus tiefstem Herzen kam. Ich habe fürchterlich unter meinen roten Haaren und den vielen Sommersprossen gelitten. Die Sommersprossen sind jetzt fast weg und mein Haar ist inzwischen kastanienbraun geworden. Das bekomme ich von allen Seiten zu hören - außer von Josie Pye natürlich. Erst gestern meinte sie, ihr kämen meine Haare röter vor als je zuvor. Ach, Marilla, ich habe es fast schon aufgegeben, Josie Pye gern zu mögen. Ich habe mir Mühe gegeben, aber irgendwie will sie nicht gemocht werden.«
»Sie ist eben eine Pye«, antwortete Marilla. »Die ganze Familie ist so, du darfst dir nichts daraus machen. - Wird Josie jetzt anfangen zu unterrichten?«
»Nein, sie geht nächstes Jahr wieder aufs Queen’s College, so wie Moody Spurgeon und Charlie Sloane. Jane und Ruby werden aber unterrichten. Sie haben beide gute Schulen bekommen, Jane die in Newbridge und Ruby eine irgendwo im Westen.«