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»Gilbert Blythe will wohl auch an die Schule gehen, nicht wahr?«

»Ja«, war Annes kurze Antwort.

»Was für ein netter, gut aussehender junger Mann aus ihm geworden ist!«, sagte Marilla gedankenverloren. »Ganz wie sein Vater. .. John Blythe war ein feiner Kerl. Er und ich waren gute Freunde damals, die Leute nannten ihn meinen »Verehren.«

Gespannt sah Anne Marilla an. »Und dann? Was ist passiert?«

»Es gab einen dummen Streit und ich habe nicht eingelenkt, als er mich um Verzeihung bat. Später hätte ich mich nur allzu gern mit ihm versöhnt - aber zuerst war ich wütend und schmollte, und dann gab es keine Gelegenheit mehr dazu. John hatte sich von mir zurückgezogen. Die Blythes waren immer schon stolze und unabhängige Leute ... Ich habe mir wirklich oft gewünscht, ich hätte ihm verziehen, solange es noch Zeit war.«

»Es gab also auch in deinem Leben eine Romanze«, stellte Anne teilnahmsvoll fest.

»Ja, so könnte man es wohl nennen. Kaum zu glauben, wenn man mich heute so sieht, nicht wahr? Das mit John und mir ist lange her, ich hatte es selbst schon fast vergessen. Aber als ich Gilbert Blythe am letzten Sonntag in der Kirche sah, da war es mir, als wäre es erst gestern gewesen ...«

34 - Die Biegung in der Straße

Am nächsten Morgen fuhr Marilla in die Stadt und kehrte erst am Abend zurück. Anne, die mit Diana nach Orchard Slope hinübergegangen war, fand Marilla in der Küche, als sie nach Hause kam. Den Kopf in die Hände gestützt, saß Marilla gebeugt am Küchentisch. Ihr Anblick versetzte Anne einen schmerzlichen Stich: Noch nie hatte sie Marilla so untätig und kraftlos erlebt.

»Bist du müde, Marilla?«

»Ja... nein... ich weiß nicht«, antwortete Marilla matt. »Wahrscheinlich bin ich müde, aber das ist es nicht.«

»Was dann? Hast du den Spezialisten getroffen? Was hat er gesagt?«, fragte Anne besorgt.

»Ja, er hat meine Augen untersucht. Er meinte, wenn ich das Lesen und Nähen vollständig aufgebe, möglichst nicht weine und die Brille trage, die er mir gegeben hat, würden meine Augen zumindest nicht schlechter werden und die Kopfschmerzen könnten sogar nachlassen. Sonst würde ich in sechs Monaten mein Augenlicht verlieren ... Blind! Anne, stell dir das nur vor!«

Anne war vor Schreck wie erstarrt. Nach einer ganzen Weile sagte sie tapfer, doch mit zitternder Stimme: »Versuch nicht daran zu denken, Marilla! Er hat dir doch Hoffnung gemacht. Wenn du vorsichtig bist, wird es sich nicht verschlimmern. Vielleicht wirst du sogar endlich deine Kopfschmerzen los.«

»Das ist eine sehr schwache Hoffnung«, gab Marilla bitter zurück. »Wozu soll ich denn noch leben, wenn ich weder lesen noch nähen, noch sonst etwas Nützliches anfangen kann. Da kann ich genauso gut blind sein. Und was das Weinen angeht: Die Tränen lassen sich auch nicht auf Kommando abstellen, wenn man einsam ist. - Ach, Anne, ich wäre dir dankbar, wenn du mir eine Tasse Tee machen könntest. Ich bin völlig erledigt. Und bitte, sag niemandem, was ich dir erzählt habe. Ich möchte nicht, dass die Leute mir das Haus einrennen, neugierige Fragen stellen und Mitleid mit mir haben. Das würde ich nicht aushalten.«

Als Marilla ihren Tee getrunken und etwas gegessen hatte, überredete Anne sie, ins Bett zu gehen. Anne selbst ging in ihr Zimmer im Ostgiebel hinauf und setzte sich allein ans offene Fenster. Ihr Herz war schwer. Wie sehr hatte sich die Welt seit jener Nacht verändert, in der sie zuletzt hier gesessen hatte! Voller Hoffnung und Freude war sie gewesen, hatte sich ihre Zukunft in rosigen Farben ausgemalt. Dies alles schien eine Ewigkeit her zu sein und ging vielleicht niemals in Erfüllung, und doch lag ein zufriedenes Lächeln auf Annes Lippen, als sie sich schließlich schlafen legte. In ihrem Herzen herrschte Friede: Sie hatte ihrer Pflicht mutig ins Auge geschaut.

Wenige Tage später fuhr nachmittags ein Mann aus Carmody in Green Gables vor. Anne wusste, dass er John Sadler hieß, kannte ihn aber nur vom Sehen. Er unterhielt sich am Hoftor mit Marilla, auf deren Gesicht ein ganz verzweifelter Ausdruck lag.

»Was wollte Mr Sadler von dir, Marilla?«

Die alte Frau setzte sich ans Fenster und sah Anne ernst an. »Er hat gehört, dass Green Gables zum Verkauf steht - und er hat Interesse.«

»Zum Verkauf? Green Gables zum Verkauf?« Anne wollte ihren Ohren nicht trauen. »Oh, Marilla, du hast doch nicht etwa vor, Green Gables zu verkaufen?«

»Doch, Anne. Es bleibt mir nicht viel anderes übrig. Ich habe mir alles gut überlegt. Wenn meine Augen in Ordnung wären, könnte ich hier bleiben und mit einem guten Arbeiter die Farm weiterhin bewirtschaften. Aber so, wie die Dinge liegen, kann ich es nicht. Vielleicht werde ich ganz und gar mein Augenlicht verlieren - und was dann? Ach, ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde, dass ich mein Zuhause verkaufen muss. Aber je länger ich warte, desto schlechter wird der Zustand der Farm - niemand wird sie dann mehr kaufen wollen. Unser Geld auf der Bank haben wir verloren. Rachel Lynde meint auch, ich solle Green Gables verkaufen und mich irgendwo einmieten - bei ihr zum Beispiel. Es wird nicht viel Geld dabei herausspringen, die Farm ist klein und die Gebäude sind alt. Aber es wird genug sein, um mich über Wasser zu halten. Ich bin froh, dass du dein Stipendium hast, Anne. Es tut mir sehr Leid, dass du kein Zuhause mehr haben wirst, das du in deinen Ferien besuchen kannst, aber du wirst es schon irgendwie schaffen.«

Marillas Beherrschung brach zusammen. Trotz der Warnung des Augenarztes fing sie bitterlich zu schluchzen an.

»Du darfst Green Gables nicht verkaufen«, sagte Anne bestimmt. »Oh, Anne, ich wünschte, ich brauchte es nicht. Aber sag doch selbst -ich kann hier nicht allein bleiben. Ich würde vor Sorgen verrückt werden ... und mein Augenlicht verlieren.«

»Du brauchst auch nicht allein zu bleiben, Marilla. Ich werde bei dir sein. Ich gehe nicht nach Redmond.«

»Du gehst nicht nach Redmond?« Überrascht hob Marilla den Kopf. »Was meinst du damit?«

»Genau das, was ich gesagt habe. Ich nehme das Stipendium nicht an. Das habe ich schon neulich nachts entschieden, nachdem du in der Stadt warst. Du hast doch wohl nicht etwa geglaubt, ich würde dich in deinem Kummer im Stich lassen - nach allem, was du für mich getan hast? Ich habe schon über alles nachgedacht und Pläne gemacht. Pass auf: Mr Barry pachtet das Land und das Hofgebäude — darum brauchst du dir also gar keine Sorgen zu machen. Und ich werde unterrichten. Ich habe mich für die Schule in Avonlea beworben - ich glaube allerdings, man hat sie schon Gilbert Blythe versprochen. In Carmody kann ich aber auf jeden Fall unterrichten. Mr Blair hat es mir gesagt, als ich gestern bei ihm im Laden war. Im Sommer kann ich dann bei dir wohnen und tagsüber nach Carmody fahren, im Winter nehme ich mir die Woche über ein Zimmer, komme freitags nach Hause und bleibe das ganze Wochenende bei dir. Wir werden die braune Stute für den Einspänner behalten. Und ich werde dir vorlesen und dich unterhalten - du sollst dich weder langweilen noch einsam fühlen. Wir beide werden es uns hier so richtig gemütlich machen.«

Marilla lauschte ihren Worten wie einem schönen Traum.

»Oh, Anne, wenn du hier wärst, könnte ich es bestimmt schaffen, das weiß ich. Aber ich kann nicht zulassen, dass du dich für mich aufopferst. Das würde ich mir nie verzeihen.«

»Unsinn!«, lachte Anne fröhlich. »Das ist gar kein Opfer für mich. Nichts könnte schlimmer für mich sein, als Green Gables verkauft zu sehen. Ich habe mich entschieden, Marilla: Ich gehe nicht nach Redmond, ich bleibe hier und unterrichte. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

»Aber dein Studium, dein Ehrgeiz, deine Pläne ...«

»Ich bin genauso ehrgeizig wie immer - nur das Ziel hat sich gewandelt: Ich werde eine gute Lehrerin sein - und ich werde dein Augenlicht retten. Außerdem will ich ein Fernstudium machen und mich in meiner Freizeit weiterbilden. Ach, ich habe Dutzende von Plänen, Marilla - schließlich hatte ich eine ganze Woche Zeit, um darüber nachzudenken. Als ich das Queen’s College verließ, schien meine Zukunft vor mir zu liegen wie eine lange, gerade Straße. Jetzt macht sie plötzlich eine Biegung. Ich weiß noch nicht, was hinter dieser Biegung auf mich wartet, aber ich glaube, es wird etwas Gutes sein: neue Welten, neue Schönheiten, Hügel und unbekannte Täler.«