»Ich kann aber auf keinen Fall zulassen, dass du dein Stipendium aufgibst«, widersprach Marilla.
»Du kannst mich nicht davon abhalten, Marilla. Ich bin sechzehn Jahre alt und mindestens genauso dickköpfig wie du«, sagte Anne entschieden.
Als es sich in Avonlea herumsprach, dass Anne Shirley nicht auf das Redmond College gehen, sondern zu Hause bleiben und unterrichten wollte, war man sehr geteilter Meinung - zumal niemand etwas von Marillas schlechten Augen wusste. Die meisten Leute meinten, es sei töricht, eine solche Möglichkeit in den Wind zu schlagen. Mrs Allan gehörte allerdings nicht zu ihnen - und schon gar nicht die gute alte Mrs Lynde. Eines Abends, als Anne und Marilla gerade auf der Steinbank vor der Tür saßen und die letzten Sonnenstrahlen genossen, kam sie nach Green Gables hinüber. Es war ein herrlicher Sommerabend: Graue Nachtfalter schwirrten über dem Garten und ein feiner Geruch nach Minze erfüllte die laue Luft.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich Mrs Rachel neben Anne und Marilla auf die von großen rosa und gelben Stockrosen umstandene Steinbank fallen.
»Ach, tut das gut, sich hinzusetzen! Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, ohne einmal richtig Rast zu machen. — Nun, Anne, ich habe gehört, du hast deinen Plan, das College zu besuchen, aufgegeben? Das ist ein höchst erfreulicher Entschluss, finde ich. Du kannst zufrieden sein mit deiner bisherigen Ausbildung. Ich halte nichts davon, wenn junge Mädchen sich wie Männer aufführen und sich den Kopf mit Latein und Griechisch voll stopfen.«
»Latein und Griechisch werde ich trotzdem lernen, Mrs Lynde«, antwortete Anne lachend. »Ich habe mich fiir einen Fernlehrgang entschieden und werde hier auf Green Gables studieren.«
Entsetzt schüttelte Mrs Lynde den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger. »Anne Shirley, du wirst dir damit deine Gesundheit ruinieren!«
»Im Gegenteil, ich werde wachsen und gedeihen. Schließlich werde ich ja nicht übertreiben. Aber an den langen Abenden im Winter habe ich viel Zeit. Ich werde drüben in Carmody unterrichten.«
»Nach allem, was ich gehört habe, wirst du die Schule hier in Avonlea bekommen. Man hat es gerade beschlossen.«
»Mrs Lynde!«, rief Anne und sprang überrascht auf. »Die Stelle war doch schon längst Gilbert Blythe versprochen worden.«
»Ja, du hast Recht. Aber sobald Gilbert erfahren hat, dass du dich auch beworben hast, hat er seine Bewerbung wieder zurückgezogen und darum gebeten, dass man dir die Stelle gibt. Er selbst wird in White Sands unterrichten. Natürlich hat er das nur getan, um dir zu helfen. Er wusste, wie gern du bei Marilla bleiben wolltest und ich muss sagen: Das war wirklich sehr nobel von ihm - jawohl! Für ihn ist es ein echtes Opfer. In White Sands muss er nämlich für seine Unterkunft bezahlen - und das, wo doch jeder weiß, dass sein Vater nicht genug Geld hat, um ihn zu unterstützen ... Tja, Anne, es ist schon beschlossene Sache, dass du die Stelle bekommen sollst. Ich habe mich gefreut wie eine Schneekönigin, als Thomas vorhin nach Hause kam und es mir erzählte.«
»Aber ich weiß gar nicht, ob ich das annehmen kann«, murmelte Anne. »Ich meine, ich kann doch nicht zulassen, dass Gilbert so ein großes Opfer bringt... für mich.«
»Du kannst ihn sowieso nicht mehr davon abhalten: Seinen Vertrag in White Sands hat er schon unterschrieben. - Aber was hat das Geblinke da drüben bei Barrys Haus zu bedeuten?«
»Diana gibt mir ein Zeichen, dass ich zu ihr kommen soll«, erklärte Anne. »Wir pflegen immer noch unsere alten Bräuche, müssen Sie wissen. Bitte, entschuldigen Sie mich, Mrs Lynde. Ich möchte hinüberlaufen und hören, was sie von mir will.«
Flink wie ein Reh lief Anne über die Kleewiese und verschwand im Schatten des kleinen Tannenwäldchens zwischen Green Gables und Orchard Slope. Mrs Lynde sah ihr schmunzelnd nach. »Sie hat noch eine Menge von dem kleinen Mädchen an sich, das sie einmal war.«
»Aber noch viel mehr von einer Frau«, gab Marilla in einem plötzlichen Anflug ihrer alten Schärfe zurück.
Doch Schärfe war längst nicht mehr Marillas hervorstechendste Eigenschaft. Und so kam es, dass Mrs Lynde am Abend ihrem Thomas erklärte: »Marilla Cuthbert ist richtig milde geworden - jawohl!«
Am darauf folgenden Abend ging Anne zu dem kleinen Friedhof von Avonlea hinüber, um frische Blumen auf Matthews Grab zu stellen und den schottischen Rosenstrauch zu gießen. Bis zur Abenddämmerung blieb sie dort, um die Ruhe und den Frieden dieses Ortes zu genießen, dem Rauschen der Pappeln und dem Flüstern der Gräser zuzuhören. Die Sonne war schon untergegangen, als sie den Friedhof auf dem kleinen Hügel verließ. Ein frischer Wind wehte über die saftigen Kleewiesen, unter den großen Bäumen leuchtete hier und dort ein heimeliges Licht durch die Zweige. Die Landschaft erschien in sanften, milden Farben, die sich im »See der glitzernden Wasser« widerspiegelten.
»Liebe Welt«, murmelte Anne. »Du bist wunderschön und ich freue mich in dir zu leben.«
Auf halbem Weg den Hügel hinunter sah sie Gilbert pfeifend aus dem Tor der Blythe-Farm treten. Das Pfeifen erstarb auf seinen Lippen, als er Anne erblickte. Er zog höflich den Hut und wäre sicherlich schweigend an ihr vorbeigegangen, wenn Anne nicht stehen geblieben wäre und ihm ihre Hand entgegengestreckt hätte.
»Gilbert«, sprach sie ihn an. »Ich möchte dir dafür danken, dass du meinetwegen auf die Stelle in Avonlea verzichtet hast. Das war sehr nett von dir.. . und ich möchte dir sagen, dass ich es sehr zu schätzen weiß.«
Gilbert ergriff nur allzu gern die angebotene Hand. »Das ist von Herzen gern geschehen, Anne. Ich freue mich, dass ich dir diesen kleinen Gefallen tun konnte. Wollen wir jetzt Freunde sein? Hast du mir meine alten Sünden verziehen?«
Anne lachte und versuchte vergebens ihre Hand zurückzuziehen. »Ich habe dir schon an dem Tag verziehen, an dem du mich auf dem See in dein Boot genommen hast - damals wusste ich es nur noch nicht. Was für eine starrköpfige kleine Gans ich doch war! Nun sollst du ruhig alles wissen: Es hat mir seitdem immer Leid getan.«
»Wir werden die besten Freunde werden«, jubelte Gilbert. »Wir sind dazu geboren, gute Freunde zu sein, Anne — du hast dem Schicksal lange genug ins Handwerk gepfuscht. Ich bin mir sicher, dass wir uns in vieler Hinsicht helfen können. Du willst doch ein Fernstudium anfangen, nicht wahr? - Ich nämlich auch. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Marilla sah Anne neugierig an, als sie in die Küche trat.
»Wer war denn der junge Mann, der dich nach Hause gebracht hat, Anne?«
»Gilbert Blythe«, antwortete Anne und merkte verärgert, dass sie rot wurde. »Ich habe ihn auf dem Weg vom Friedhof getroffen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Gilbert Blythe und du so gute Freunde seid, dass ihr über eine halbe Stunde am Hoftor stehen und euch unterhalten könnt«, bemerkte Marilla mit einem kleinen Lächeln.
»Bis jetzt waren wir es ja auch nicht, wir waren gute Feinde. Aber jetzt haben wir festgestellt, dass es viel vernünftiger ist, gute Freunde zu werden. - War es wirklich eine halbe Stunde? Es kam mir nur wie ein paar Minuten vor. Aber du weißt ja, Marilla: Wir haben die Gespräche von fünf langen Jahren aufzuholen.«
Glücklich und zufrieden saß Anne an jenem Abend am offenen Fenster im Ostgiebel von Green Gables. Der Wind, der sanft durch die Zweige der Kirschbäume strich, wehte den Geruch von frischer Minze zu ihr herüber. Über den dunklen Tannen blinkten die Sterne, durch die Zweige konnte sie das Licht von Dianas Fenster schimmern sehen.