»Ich sehe das nicht ein. Wir haben uns auch nicht in Sälen herumgetrieben, als wir jung waren, Catherine Andrews. Die Welt wird mit jedem Tag schlechter.«
»Ich finde, sie wird besser«, sagte Catherine fest.
»Du findest!«, Miss Elizas Stimme drückte allergrößte Verachtung aus. »Was du findest, tut überhaupt nichts zur Sache, Catherine Andrews. Tatsachen bleiben Tatsachen.«
»Nun, ich sehe eben lieber die schönen Seiten, Eliza.«
»Die gibt es nicht.«
»0 doch«, rief Anne, die es nicht länger schweigend hinnehmen konnte. »Es gibt sogar sehr viele schöne Seiten, Miss Andrews. Die Welt ist wohl schön.«
»Der hohen Meinung wären Sie nicht, wenn Sie so lange darin gelebt hätten wie ich«, erwiderte Miss Andrews verdrießlich. »Und Sie würden auch nicht mehr diese Begeisterung aufbringen, um sie zu verschönern. Wie geht es deiner Mutter, Diana? Ach ja, sie war ja erst neulich so schlecht auf dem Damm. Sie sieht furchtbar mitgenommen aus. Und wann wird Marilla stockblind sein, Anne?«
»Der Arzt meint, ihre Augen würden sich nicht verschlechtern, wenn sie sie schont«, stotterte Anne.
Eliza schüttelte den Kopf.
»Ärzte reden immer so was daher, nur um den Leuten Mut zu machen. Ich an ihrer Stelle hätte da nicht so große Hoffnung. Besser, man rechnet mit dem Schlimmsten.«
»Aber sollte man nicht auch auf das Beste hoffen?«, brachte Anne vor. »Das Gute kann so gut geschehen wie das Schlechte.«
»Meiner Erfahrung nach nicht und da sprechen meine siebenundfünfzig Jahre gegen deine sechzehn«, erwiderte Eliza. »Ihr wollt weiter, nicht wahr? Nun, ich kann nur hoffen, euer neuer Verein verhindert, dass es mit Avonlea weiter bergab geht, aber große Hoffnung habe ich da nicht.«
Anne und Diana waren froh, gehen zu können, und fuhren so schnell, wie das behäbige Pferd laufen konnte. Als sie unterhalb des Buchenwaldes um die Kurve bogen, kam eine Gestalt über Mr Andrews’ Weide gerannt und winkte ihnen aufgeregt zu. Es war Catherine Andrews. Sie war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte, aber sie schob Anne zwei Centstücke in die Hand.
»Das ist mein Beitrag für den Saal«, keuchte sie. »Ich wollte euch einen Dollar geben, aber ich traue mich nicht, noch mehr von meinem Eiergeld abzuzweigen, weil Eliza dahinterkommen würde. Euer Verein interessiert mich und ich glaube, ihr werdet einiges erreichen. Ich bin Optimistin. Muss man ja sein, wenn man mit Eliza zusammenlebt. Ich muss mich beeilen, nicht dass sie mich vermisst. Sie denkt, ich füttere die Hühner. Viel Glück noch bei eurer Aktion und lasst den Kopf nicht hängen wegen dem, was Eliza sagt. Die Welt wird wohl besser .. . ganz bestimmt.«
Als Nächstes kamen sie zu Daniel Blair.
»Diesmal hängt alles ganz davon ab, ob seine Frau zu Hause ist oder nicht«, sagte Diana, als sie über den tief ausgefahrenen Weg holperten. »Wenn sie da ist, bekommen wir nicht einen Cent. Alle sagen, Dan Blair traue sich nicht einmal, sich die Haare schneiden zu lassen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Sie ist wirklich geizig, um es einmal milde auszudrücken. Lieber geizig als einmal großzügig, lautet ihre Devise. Aber Mrs Lynde sagt, die Gefahr bestünde nicht, dass sie einmal großzügig sei.«
Am Abend berichtete Anne Marilla von ihrem Erlebnis bei den Blairs. »Wir haben das Pferd angebunden und dann an die Küchentür geklopft. Niemand kam, aber die Tür stand offen. Wir hörten, wie in der Speisekammer jemand schimpfte wie ein Rohrspatz. Wir konnten kein Wort verstehen, aber Diana sagte, es klänge ganz nach Fluchen.
Ich kann mir das bei Mr Blair gar nicht vorstellen, er ist immer so ruhig und sanftmütig. Aber schließlich hatte er allen Grund dazu, Manila. Als dieser arme Kerl rot wie eine Rübe und mit schweißüberströmtem Gesicht an die Tür kam, hatte er eine von den Gingham-Schürzen seiner Frau an. >Ich kriege dieses verdammte Ding nicht auf<, sagte er, >weil die Bänder so fest verknotet sind, und einfach kaputtmachen kann ich sie auch nicht. Sie müssen entschuldigen, meine Damen.< Wir sagten ihm, dass das doch nichts ausmache, und gingen ins Haus und setzten uns hin. Mr Blair setzte sich ebenfalls. Er drehte die Schürze auf den Rücken, aber er sah so beschämt und gequält drein, dass er mir Leid tat. Diana sagte, sie fürchte, wir wären vielleicht in einem unpassenden Augenblick vorbeigekommen. >Oh, nein, gar nicht<, sagte Mr Blair und versuchte zu lächeln, du weißt, er ist immer sehr höflich. >Ich habe nur ziemlich viel zu tun, wollte gerade einen Kuchen backen. Meine Frau hat vorhin ein Telegramm bekommen, dass heute Nachmittag ihre Schwester aus Montreal kommt. Sie holt sie vom Zug ab und hat mir aufgetragen, zum Tee einen Kuchen zu backen. Sie hat das Rezept aufgeschrieben und mir erklärt, wie ich der Reihe nach vorgehe, aber das meiste habe ich wieder vergessen. Und da steht: Nach Geschmack. Was heißt das? Wissen Sie das? Und was ist, wenn mein Geschmack zufällig nicht anderer Leute Geschmack ist? Reicht ein Esslöffel voll Vanille für eine kleine Schichttorte?< Mir tat der arme Mann noch mehr Leid als ohnehin schon. Das schien wirklich nicht sein Fach zu sein. Männer, die unter dem Pantoffel stehen, kenne ich vom Hörensagen, aber da hatte ich leibhaftig einen vor mir. Mir lag schon auf den Lippen: >Mr Blair, wenn Sie uns eine Spende für den Saal geben, rühre ich Ihnen den Teig an.< Aber dann fiel mir ein, dass es nicht gerade die feine Art ist, mit einem Menschen, der in höchster Not steckt, einen so gerissenen Handel zu treiben. Also bot ich ihm an den Teig anzurühren, ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen. Er stürzte sich förmlich auf mein Angebot. Er sagte, vor seiner Heirat hätte er immer sein Brot selbst gebacken, aber er fürchte, Kuchen übersteige seine Fähigkeiten und er wollte seine Frau nicht enttäuschen. Er gab mir eine Schürze. Diana schlug die Eier auf und ich rührte den Teig an. Mr Blair rannte herum und holte die Sachen zusammen. Seine Schürze hatte er darüber völlig vergessen und wie er so umherflitzte, flatterte die Schürze hinter ihm drein. Diana konnte es kaum mehr mit ansehen. Er sagte, in den Ofen schieben könne er den Kuchen allein, damit kenne er sich aus. Dann fragte er nach unserer Liste und trug sich mit vier Dollar ein. Du siehst also, wir wurden belohnt. Aber auch wenn er nicht einen Cent gegeben hätte, dann hätten wir immerhin eine christliche Tat getan, indem wir ihm geholfen haben.«
Als Nächstes hatten sie bei dem Anwesen von Theodore White Halt gemacht. Weder Anne noch Diana waren jemals dort gewesen. Sie kannten nur Mrs Theodore flüchtig, die nicht gerade als gastfreundlich galt. Sollten sie an die Hinter- oder an die Vordertüre gehen? Als sie sich flüsternd berieten, erschien Mrs Theodore mit einem Arm voll Zeitungen an der Vordertür. Sie legte sie eine nach der anderen sorgsam auf den Verandafußboden und die Stufen zur Veranda und dann den Weg entlang genau bis vor die Füße der verblüfften Besucher.
»Würden Sie bitte sorgfältig Ihre Schuhe auf dem Gras abputzen und über die Zeitungen gehen?«, sagte sie besorgt. »Ich habe gerade das ganze Haus gefegt und ich möchte nicht, dass es wieder voller Dreckspuren ist. Der Weg ist ganz schlammig nach dem Regen gestern.«
»Fang ja nicht an zu lachen«, warnte Anne Diana flüsternd, als sie über die Zeitungen schritten. »Und ich flehe dich an, Diana, sieh mich nicht an, egal was sie sagt, oder ich kann nicht mehr an mich halten.« Die Zeitungen reichten quer durch den Flur und bis in ein tipptopp und makellos sauberes Wohnzimmer. Anne und Diana nahmen höchst vorsichtig auf den nächstbesten Stühlen Platz und brachten ihr Anliegen vor. Mrs White hörte ihnen höflich zu und unterbrach sie nur zweimal, einmal um eine verwegene Fliege zu verscheuchen, das zweite Mal, um einen winzigen Grashalm aufzuheben, der aus Annes Kleid auf den Teppich gefallen war. Anne war sich ihrer Schuld bewusst. Aber Mrs White trug sich mit zwei Dollar ein und bezahlte das Geld gleich. »Damit wir nicht noch einmal herkommen müssen«, sagte Diana, als sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten. Mrs White hatte die Zeitungen aufgesammelt, noch ehe sie das Pferd losgebunden hatten. Als sie vom Hof fuhren, sahen sie sie geschäftig mit einem Besen durch den Flur wedeln.