»Man hat immer erzählt, Mrs Theodore White wäre die ordentlichste Frau der Welt-jetzt weiß ich es«, sagte Diana und brach in schallendes Gelächter aus, kaum, dass sie in sicherer Entfernung waren. »Was für ein Glück, dass sie keine Kinder hat«, sagte Anne ernst. »Für Kinder wäre es einfach unerträglich.«
Bei den Spencers war ihnen ganz mulmig zumute, weil Mrs Isabella Spencer über jeden in Avonlea etwas Boshaftes zu berichten wusste. Mr Thomas Boulter weigerte sich eine Spende zu geben, weil der Saal vor zwanzig Jahren nicht an der Stelle erbaut worden sei, die er vorgeschlagen hatte. Mrs Esther Bell, die vor Gesundheit nur so strotzte, brauchte eine halbe Stunde, um ihnen in allen Einzelheiten ihre Krankheiten und Leiden darzulegen, und spendete traurig fünfzig Cents, weil sie im nächsten Jahr um die Zeit nicht mehr da wäre, um sie ihnen zu geben - ja, sie würde dann längst im Grab liegen. Den schlimmsten Empfang allerdings erlebten sie bei den Fletchers. Als sie in den Hof einbogen, sahen sie, wie zwei Mädchen sie durch das Speisekammerfenster hindurch anstarrten. Als sie anklopften und geduldig warteten - niemand kam an die Tür -, fuhren die zwei wutentbrannt und aufgebracht davon. Selbst Anne gab zu, dass sie allmählich der Mut verließ. Aber danach lief es besser. Als Nächstes waren mehrere Sloane-Anwesen an der Reihe, wo sie freigebig Spenden erhielten. Von da an bis zum Schluss erging es ihnen, bis auf eine einzige Abfuhr, bestens. Als Letzten besuchten sie Robert Dickinson an der Bachbrücke. Sie blieben dort lieber zum Tee, obwohl sie schon so gut wie zu Hause waren, um nicht womöglich Mrs Dickinson zu beleidigen, die als sehr »empfindlich« galt.
Während ihres Besuches erschien Mrs James White.
»Ich war gerade bei Lorenzo«, verkündete sie. »Er ist im Augenblick der glücklichste Mensch von ganz Avonlea. Denken Sie nur! Sie haben eben einen kleinen Jungen bekommen — nach sieben Mädchen ist das wirklich ein Ereignis, nicht wahr?«
Anne spitzte die Ohren. Als sie weiterfuhren, sagte sie: »Ich gehe auf der Stelle zu Lorenzo White.«
»Aber er wohnt an der White-Sands-Straße, das ist ein Riesenumweg für uns«, wandte Diana ein. »Gilbert und Fred werden ihn doch aufsuchen.«
»Aber erst nächsten Samstag und bis dahin ist es zu spät«, sagte Anne entschieden. »Dann ist die Neuigkeit schon Schnee von gestern. Lorenzo White ist furchtbar knauserig, aber im Augenblick würde er für egal was etwas spenden. So eine günstige Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen, Diana.«
Das Ergebnis gab Anne Recht. Sie trafen Mr White im Hof. Er strahlte wie die Sonne am Ostersonntag. Als Anne ihn um eine Spende bat, war er gleich begeistert dabei.
»Sicher, sicher. Tragen Sie mich mit einem Dollar mehr, als die bisher größte Spende beträgt, in die Liste ein.«
»Das wären fünf Dollar. Mr Daniel Blair hat vier gegeben«, sagte Anne halb ängstlich. Aber Lorenzo zuckte nicht mit der Wimper.
»Also fünf - hier ist auch gleich das Geld. Und jetzt müssen Sie hereinkommen! Da gibt es etwas, das sich anzuschauen lohnt... etwas, das bisher nur ganz wenige Leute gesehen haben. Kommen Sie kurz mit herein und urteilen Sie selbst.«
»Was sagen wir, wenn das Baby nicht hübsch ist?«, flüsterte Diana besorgt, als sie dem aufgeregten Lorenzo ins Haus folgten.
»Ach, dann gibt es bestimmt sonstwas Nettes zu sagen«, sagte Anne leichthin. »Was man bei Babys eben so sagt.«
Doch das Baby war hübsch und Mr White fand, das aufrichtige Entzücken der Mädchen über den pummeligen kleinen neuen Erdenbürger war die fünf Dollar wert. Aber das war das erste, letzte und einzige Mal, dass Lorenzo White etwas spendete.
Anne, erschöpft wie sie war, tat an dem Abend noch etwas für das Gemeinwohl, indem sie nämlich über die Felder zu Mr Harrison ging und ihn um eine Spende bat. Er saß wie üblich auf der Veranda und rauchte seine Pfeife, Ginger neben sich. Genau genommen wohnte er an der Carmody-Straße, aber Jane und Gertie, die ihn abgesehen von ein paar dubiosen Erzählungen nicht kannten, hatten ängstlich Anne gebeten, zu ihm zu gehen.
Mr Harrison jedoch lehnte es rundweg ab, auch nur einen Cent zu spenden. All ihre Überredungsversuche blieben erfolglos.
»Aber ich dachte, Sie würden unseren Verein gut finden, Mr Harrison«, sagte Anne bedauernd.
»Tu ich auch, tu ich auch. Aber tief in die Tasche greifen will ich dafür nicht, Anne.«
»Noch ein paar solche Erfahrungen, wie ich sie heute gemacht habe, und ich würde eine Pessimistin werden wie Miss Eliza Andrews«, sagte Anne vor dem Zubettgehen zu ihrem Spiegelbild in ihrem Zimmer im Ostgiebel.
07 - Eine Frage der Pflicht
Es war ein milder Oktoberabend. Anne lehnte sich in ihren Stuhl zurück und seufzte. Auf dem Tisch lagen viele Bücher und Hefte, aber die eng beschriebenen Seiten vor ihr hatten unverkennbar nichts mit Studien oder Arbeiten für die Schule zu tun.
»Was ist los?«, fragte Gilbert, der gerade in dem Augenblick an die offene Küchentür gekommen war, um ihren Seufzer noch zu hören. Anne wurde rot und schob das Geschriebene schnell unter ein paar Schulaufsätze.
»Nichts Schlimmes. Ich habe nur gerade versucht, einige meiner Gedanken zu Papier zu bringen, wie Professor Hamilton es mir geraten hat, aber es will mir nicht so recht gelingen. Sie wirken so hölzern und dümmlich direkt, wenn man sie schwarz auf weiß vor sich hat. Einfälle sind wie Schatten - man kann sie nicht einfangen, sie sind unberechenbar und hüpfen hin und her. Aber vielleicht gelingt es mir eines Tages ja doch, wenn ich es weiter probiere. Ich habe nicht viel freie Zeit, weißt du. Wenn ich die Hefte und Aufsätze korrigiert habe, habe ich meist keine Lust mehr zum Schreiben.«
»Du kommst in der Schule glänzend an, Anne. Alle Kinder mögen dich«, sagte Gilbert und setzte sich auf die Steinstufe.
»Nein, das stimmt nicht. Anthony Pye mag mich nicht und wird mich nie mögen. Schlimmer noch, er respektiert mich nicht, überhaupt nicht. Er verachtet mich. Ich gebe auch gern zu, dass mich das furchtbar quält. Nicht dass er von Grund auf schlecht wäre, er stellt nur dauernd etwas an. Aber eigentlich auch nichts Schlimmeres als andere. Er gehorcht mir meist auch, aber mit einer spöttischen Nachsicht, so, als lohne es nicht, sich mit mir anzulegen — und das hat einen schlechten Einfluss auf die anderen. Ich habe alles versucht, ihn für mich einzunehmen, aber ich fürchte langsam, dass mir das nie gelingen wird. Ich möchte es, weil er ein kluges Kerlchen ist, Pye hin und her. Ich würde ihn gut leiden können, wenn er es nur zuließe.«
»Wahrscheinlich kriegt er zu Hause so einiges mit.«
»Nein. Anthony ist ein selbstständiger kleiner Bursche und bildet sich seine eigene Meinung. Er hat schon immer mehr von Männern gehalten und behauptet, Lehrerinnen taugten nichts. Nun ja, man wird sehen, was sich mit Geduld und Freundlichkeit machen lässt. Es liegt mir, Schwierigkeiten zu meistern, und Unterrichten ist wirklich hochinteressant. Paul Irving macht alles wieder wett, woran es bei den anderen hapert. Dieser Junge ist einfach ein Goldschatz, Gilbert, und ein Genie obendrein. Ich bin sicher, eines Tages wird man von ihm noch hören«, schloss Anne überzeugt.
»Mir macht die Schule auch Spaß«, sagte Gilbert. »Zum einen ist es ein gutes Training. Zum anderen, Anne, habe ich in den Wochen, seit ich in White Sands unterrichte, mehr gelernt als in all den Jahren, als ich selbst noch zur Schule ging. Wir scheinen alle ganz gut zurechtzukommen. Die Leute in Newbridge sind sehr zufrieden mit Jane, hat man mir erzählt, und ich glaube, White Sands ist auch leidlich zufrieden mit deinem treuen Freund - außer Mr. Andrew Spencer. Letzten Abend auf dem Nachhauseweg traf ich Mrs. Peter Blewett. Sie sagte, sie hielte es für ihre Pflicht, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass Mr. Spencer mit meinen Methoden nicht einverstanden wäre.«