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»Dora würde sich bestimmt nicht allein den weiten Weg bis dahin trauen, aber ich gehe nachsehen«, sagte Anne.

Niemand warf in dem Moment einen Blick auf Davy, sonst hätten sie einen entschiedenen Wandel in seinem Gesichtsausdruck bemerken können. Er glitt leise vom Tor und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Scheune.

Anne lief ohne große Hoffnung über die Felder zu Mr Harrisons Haus. Das Haus war verriegelt, die Fensterläden geschlossen. Es gab nirgends ein Lebenszeichen. Sie stand auf der Veranda und rief laut nach Dora.

Ginger in der Küche hinter ihr begann plötzlich wütend zu krächzen und zu fluchen. Aber zwischen dem Gekreische hörte Anne einen jämmerlichen Laut aus dem kleinen Gebäude auf dem Hof, das Mr Harrison als Geräteschuppen diente. Anne stürzte an die Tür, riegelte sie auf und nahm die tränenüberströmte Dora in die Arme. Sie saß einsam und verlassen auf einer umgedrehten Nagelkiste.

»Oh, Dora, Dora, wir haben solche Angst um dich gehabt! Wie kommst du hierher?«

»Davy und ich wollten Ginger besuchen«, schluchzte Dora, »aber das ging ja nicht. Davy hat ihn nur zum Kreischen gebracht, weil er mit dem Fuß gegen die Tür gestoßen hat. Dann hat mich Davy hier reingebracht, ist rausgerannt und hat die Tür verriegelt. Und ich war eingesperrt. Ich hab gerufen und gerufen, ich hatte solche Angst. Außerdem hab ich schrecklichen Hunger und friere so. Ich dachte schon, du würdest überhaupt nie kommen, Anne.«

»Davy?« Anne konnte nichts mehr sagen. Niedergeschlagen trug sie Dora nach Hause. Ihre Freude, dass sie Dora gesund und munter gefunden hatte, verging ihr vor Kummer über Davys Betragen. Davys plötzlichen Einfall, Dora einzusperren, konnte man ihm leicht verzeihen. Aber Davy hatte gelogen - hatte kaltblütig gelogen. Das war das Gemeine daran und Anne konnte nicht die Augen davor schließen. Vor bloßer Enttäuschung hätte sie sich hinsetzen und losheulen mögen. Sie hatte Davy wirklich lieb gewonnen - wie lieb, hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht geahnt und es tat ihr unerträglich weh, feststellen zu müssen, dass er bewusst gelogen hatte.

Marilla hörte Anne in einem Schweigen zu, das nichts Gutes für Davy verhieß. Mr Barry lachte und empfahl, sich Davy kurzerhand vorzuknöpfen. Als er nach Hause gegangen war, tröstete Anne die schluchzende, zitternde Dora und wärmte sie auf. Sie gab ihr zu essen und brachte sie ins Bett. Dann kam sie in eben dem Augenblick wieder in die Küche, als auch Marilla hereinkam und den sich sträubenden, von oben bis unten mit Spinnweben überzogenen Davy hineinführte, oder besser gesagt hineinzerrte, den sie soeben in der finstersten Ecke des Stalls entdeckt hatte, wo er sich versteckt hatte.

Sie zog ihn auf die Matte mitten im Zimmer und setzte sich an das Ostfenster. Anne saß schlaff am Westfenster. Zwischen ihnen stand der Sünder. Er stand mit dem Rücken zu Marilla - demütig, unterwürfig voller Angst. Sein Gesicht war Anne zugewandt, und auch wenn er etwas unverschämt dreinsah, lag in Davys Augen etwas Verschwörerisches, so als wüsste er, dass er etwas Falsches getan hatte und dafür bestraft werden würde, aber auch so, als könnte er damit rechnen, dass Anne und er später zusammen darüber lachen würden.

Doch nicht einmal ein Anflug eines Lächelns in Annes Augen konnte ihn hoffen lassen, er hätte nur eine Dummheit begangen. Da war etwas anderes, etwas Ablehnendes und Abweisendes.

»Wie konntest du das tun, Davy?«, fragte sie bekümmert.

Davy wand sich verlegen.

»Es war nur so aus Spaß. Die ganze Zeit schon war alles so ruhig hier. Ich dachte, es wäre ganz lustig, wenn ich euch einen großen Schrecken einjage. Und das war’s ja auch.«

Trotz seiner Angst und seiner Gewissensbisse grinste Davy bei dem Gedanken daran.

»Aber du hast die Unwahrheit gesagt, Davy«, sagte Anne betrübter denn je.

Davy schaute verwirrt.

»Was ist eine Unwahrheit? Meinst du schwindeln?«

»Ich meine damit eine Lügengeschichte.«

»Klar, das hab ich getan«, sagte Davy offen heraus. »Hätte ich es nicht getan, hättet ihr keinen Schrecken gekriegt. Ich musste die Unwahrheit sagen.«

Anne spürte, welche Angst sie ausgestanden und welche Kraft es sie gekostet hatte. Davys verstocktes Verhalten gab ihr den Rest. Zwei dicke Tränen traten ihr in die Augen.

»Oh, Davy, wie konntest du nur?«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Weißt du denn nicht, dass das nicht richtig war?«

Davy war entgeistert. Anne weinte - er hatte Anne zum Weinen gebracht! Wie von einer Welle wurde sein warmes kleines Herz von einem Strom echter Reue durchflutet und förmlich verschlungen. Er stürmte zu Anne, kletterte auf ihren Schoß, schlang seine Arme um sie und brach in Tränen aus.

»Ich wusste nicht, dass es falsch ist zu schwindeln«, schluchzte er. »Woher meinst du, hätte ich das auch wissen sollen? Wo Mr Sprotts Kinder regelmäßig jeden Tag geschwindelt und auch immer ihr Ehrenwort gegeben haben. Paul Irving schwindelt bestimmt nie. Ich hab mich ganz toll angestrengt, so zu sein wie er. Jetzt magst du mich bestimmt nie mehr. Ich finde, du hättest es mir sagen müssen, dass es nicht richtig ist. Es tut mir schrecklich Leid, dass ich dich zum Weinen gebracht habe, Anne. Ich werde nie wieder schwindeln.« Davy vergrub sein Gesicht an Annes Schulter und weinte heftig. Anne hielt ihn plötzlich verständnisvoll fest und sah über seinen Wuschelkopf hinweg Marilla an.

»Er wusste nicht, dass man nicht die Unwahrheit sagen darf, Marilla. Ich meine, in dem müssen wir ihm diesmal noch verzeihen, wenn er verspricht, nie wieder zu lügen.«

»Ich tu’s nie wieder. Jetzt wo ich weiß, dass es schlimm ist«, versprach Davy unter Schluchzen. »Wenn du mich noch mal beim Schwindeln erwischst, darfst du ...« Davy suchte nach einer geeigneten Strafe, »darfst du mir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen, Anne.«

»Sag nicht immer >schwindeln<, Davy ... es heißt lügen«, sagte die Lehrerin in Anne.

»Warum?«, fragte Davy, der es sich bequem machte und mit tränennassen, forschendem Blick aufsah. »Warum ist schwindeln nicht genauso gut wie lügen? Das will ich wissen. Es ist nur ein anderes Wort.«

»Es ist aus der Gaunersprache. Und kleine Jungen sollen keine Gaunersprache gebrauchen.«

»Da gibt’s so furchtbar viel, was man nicht sollte«, sagte Davy mit einem Seufzer. »Ich hätte das nie für möglich gehalten. Ich finde es schade, dass man nicht schwin ... lügen darf, weil das ein viel schöneres Wort ist. Aber auch wenn es das ist, ich werde es nie mehr sagen. Was für eine Strafe kriege ich diesmal dafür? Das will ich wissen.« Anne sah Marilla flehend an.

»Ich will nicht zu hart mit dem Kind verfahren«, sagte Marilla. »Gewiss hat ihm bisher noch kein Mensch gesagt, dass man nicht lügen darf. Diese Sprott-Kinder waren nicht der richtige Umgang für ihn. Die gute Mary war zu krank, um ihn richtig zu erziehen. Von einem sechs Jahre alten Kind kann man wohl nicht erwarten, dass es solche Sachen instinktiv weiß. Wir müssen wohl einfach davon ausgehen, dass er nichts wirklich weiß, und ganz von vorn beginnen. Aber er muss eine Strafe dafür bekommen, dass er Dora eingesperrt hat. Ich weiß mir da keinen anderen Rat, als ihn wie schon so oft ohne Essen ins Bett zu schicken. Oder fällt dir etwas anderes ein, Anne? Eigentlich müsste es das, bei deiner Phantasie.«

»Strafen sind was Scheußliches und ich stelle mir lieber nur schöne Dinge vor«, sagte Anne und drückte Davy an sich. »Es gibt ohnehin schon so viele unschöne Dinge auf der Welt, dass man nicht auch noch welche dazuerfinden muss.«

Zu guter Letzt wurde Davy wie üblich bis zum nächsten Mittag ins Bett geschickt. Allem Anschein nach hatte er über einiges nachgedacht, denn als Anne etwas später hinaus in ihr Zimmer trat, saß er aufrecht im Bett, die Ellbogen auf die Knie gelegt und das Kinn auf die Hände gestützt.