»Anne«, sagte er ernsthaft, »darf niemand schwin ... lügen? Das will ich wissen.«
»Nein.«
»Ein Erwachsener auch nicht?«
»Nein.«
»Dann«, sagte Davy bestimmt, »ist Marilla ein schlechter Mensch, weil sie lügt. Sie ist noch schlimmer als ich, weil ich nicht wusste, dass man das nicht darf, aber sie weiß es.«
»Davy Keith, Marilla hat ihr Lebtag noch keine Lügengeschichten erzählt«, sagte Anne entrüstet.
»Doch. Letzten Dienstag hat sie zu mir gesagt, dass mir ein Unglück zustoßen würde, wenn ich nicht jeden Abend bete. Das hab ich seit über einer Woche nicht mehr getan, nur um herauszufinden, was passieren würde - und nichts ist passiert«, schloss Davy anklagend. Anne hätte am liebsten losgelacht, unterdrückte es jedoch in dem Wissen, dass ein Lachen verhängnisvoll gewesen wäre. Dann machte sie sich ernsthaft daran, Marillas Ruf zu retten.
»Wieso, Davy Keith«, sagte sie ernst, »an eben diesem Tag ist dir doch etwas Schreckliches passiert.«
Davy schaute skeptisch.
»Du meinst, weil ich ohne Essen ins Bett geschickt wurde?«, sagte er spöttisch. »Das ist nicht schrecklich. Klar, es passt mir nicht, aber ich wurde schon so oft ins Bett geschickt, seit ich hier bin, dass ich mich langsam daran gewöhne. Und sparen tut ihr dadurch auch nichts, weil ich zum Frühstück immer doppelt so viel esse.«
»Dass du ins Bett geschickt wurdest, meine ich nicht. Ich meine deine Lüge. Und Davy?«, Anne lehnte sich über das Fußende des Bettes und drohte dem Übeltäter mit dem Finger, »wenn ein Junge Lügengeschichten erzählt, ist das fast das Schlimmste, was passieren kann, fast das Allerschlimmste. Du siehst also, Marilla hat die Wahrheit gesagt.«
»Aber ich dachte, das Schlimme wäre aufregend«, sagte Davy beleidigt.
»Marilla hat keine Schuld an dem, was du denkst. Schlimme Dinge sind nicht immer aufregend. Sie sind meist nur hässlich und dumm.«
»Es war aber schrecklich lustig mit anzusehen, wie du und Marilla in den Brunnen geschaut habt«, sagte Davy und umfasste seine Knie. Anne verzog keine Miene — erst als sie unten war und sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen ließ, lachte sie, bis sie Seitenstechen bekam.
»Was gibt es zu lachen?«, sagte Marilla ein wenig grimmig. »Ich habe heute noch nicht viel zu lachen gehabt.«
»Wenn du das hörst, wirst du lachen«, versicherte Anne. Und Marilla lachte, was zeigte, welche Fortschritte sie seit Annes Adoption gemacht hatte. Aber gleich darauf seufzte sie.
»Ich hätte das besser nicht zu ihm gesagt, auch wenn ich mal gehört habe, wie ein Pfarrer es zu einem Kind sagte. Aber er hat mich so geärgert. Es war an dem Abend, an dem du im Konzert in Carmody warst und ich Davy ins Bett gebracht habe. Er sagte, er sehe im Beten keinen Sinn, bis er so groß wäre, dass er für Gott von einer Wichtigkeit wäre. Anne, ich weiß nicht, was wir mit diesem Kind anstellen sollen. Er übersteigt alles, was ich bisher kenne. Ich bin schlichtweg verzweifelt.«
»Oh, sag so was nicht, Marilla. Erinnere dich nur einmal daran, wie schlimm ich war, als ich hierher kam.«
»Anne, du warst nicht schlimm, niemals. Das wird mir jetzt klar, wo ich sehe, was schlimm heißt. Du hast dich dauernd in die Nesseln gesetzt, das stimmt, aber bei dir steckte immer eine gute Absicht dahinter. Davy ist einfach aus lauter Spaß an der Freude schlimm.«
»Oh nein, er ist nicht durch und durch schlecht«, sagte Anne verteidigend. »Er hat nur Unfug im Sinn. Und hier ist wenig für ihn los, verstehst du. Es gibt keine anderen Jungen zum Spielen und er muss seine Gedanken mit irgendwas beschäftigen. Dora ist immer so sauber und adrett, dass sie sich als Spielkameradin für einen Jungen nicht eignet. Ich glaube wirklich, es wäre besser, sie würden in die Schule gehen, Marilla.«
»Nein«, sagte Marilla bestimmt, »mein Vater hat immer gesagt, ein Kind sollte frühestens mit sieben in die vier Wände einer Schule eingesperrt werden; Mr Allan sagt dasselbe. Die Zwillinge können zu Hause ein paar Unterrichtsstunden bekommen, aber zur Schule geschickt werden sie erst mit sieben.«
»Nun, dann müssen wir Davy zu Hause Manieren beibringen«, sagte Anne heiter. »Trotz all seiner Fehler ist er ein liebes Kerlchen. Ich hab ihn einfach gern. Marilla, auch wenn es sich schlimm anhört, aber ehrlich, ich mag Davy lieber als Dora, weil sie immer so artig ist.«
»Hm, so geht es mir auch«, gestand Marilla. »Irgendwie ist es ungerecht, denn Dora macht uns nie Sorgen. Sie ist ein Musterkind, man merkt kaum, dass sie da ist.«
»Dora ist zu brav«, sagte Anne. »Sie würde sich genauso benehmen, wenn kein Mensch da wäre und ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hat. Sie kam schon erwachsen auf die Welt, also braucht sie uns nicht. Und ich glaube«, schloss Anne und traf damit den Nagel auf den Kopf, »dass wir die Menschen, die uns brauchen, immer am liebsten haben. Davy braucht uns dringend.«
»Zumindest eins braucht er«, stimmte Marilla zu. »Rachel würde sagen, er braucht eine gehörige Tracht Prügel.«
11 - Tatsachen und Wunschvorstellungen
»Unterrichten ist hochinteressant«, schrieb Anne an eine Stubengenossin vom Queen’s College. »Jane findet es eintönig, ganz im Gegensatz zu mir. Fast jeden Tag passiert etwas Lustiges und die Kinder erzählen amüsante Sachen. Jane bestraft ihre Schüler, wenn sie lustige Ausdrücke gebrauchen, deshalb ist für sie die Schule vielleicht auch langweilig. Heute Nachmittag sollte der kleine Jimmy Andrews >gesprenkelt< buchstabieren und brachte es nicht fertig. >Na ja<, sagte er schließlich, >ich kann es nicht buchstabieren, aber ich weiß, was es bedeutet.<«
»Was denn?« fragte ich.
»St. Clair Donnells Gesicht ist so, Miss.«
St. Clair ist zweifellos >gesprenkelt<, aber ich will nicht, dass die anderen dazu ihre Kommentare abgeben - ich hatte früher selbst auch Sommersprossen und kann mich nur zu gut daran erinnern. Aber St. Clair macht es, glaube ich, nichts aus. Dass St. Clair Jimmy auf dem Nachhauseweg von der Schule vertrimmt hat, lag allerdings daran, dass Jimmy ihn >St. Clair< genannt hat. Mir ist die Sache zu Ohren gekommen, aber nicht offiziell, also werde ich einfach nicht darauf eingehen.
Gestern habe ich versucht, Lottie Wright die Addition beizubringen. Ich sagte: >Angenommen, du hast drei Bonbons in der einen Hand und zwei in der anderen, wie viel hast du dann zusammen?< - >Einen Mund voll<, sagte Lottie. Im Naturkundeunterricht, als ich die Klasse aufforderte, mir vernünftige Gründe zu nennen, weshalb man Frösche nicht töten soll, hat mir Benjie Sloane in vollem Ernst geantwortet: >Weil es dann am nächsten Tag Regen gibt.<
Man kann sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen, Stella. Ich muss damit immer warten, bis ich zu Hause bin. Marilla macht es schon ganz nervös, dass sie dauernd ohne ersichtlichen Grund ungestüme Lachanfälle im Ostgiebel hört. Sie sagt, früher einmal wäre ein Mann aus Grafton durchgedreht und genauso hätte es bei ihm auch angefangen.
Das Schwierigste, aber auch das Interessanteste am Unterrichten ist, finde ich, den Kindern ihre geheimsten Gedanken zu entlocken. An einem stürmischen Tag letzte Woche habe ich sie um die Mittagszeit zusammengerufen und versucht, mich mit ihnen wie mit ihresgleichen zu unterhalten. Ich fragte die Schüler, was sie sich am sehnlichsten wünschten. Einige Antworten waren ziemlich banaclass="underline" Puppen, Pferde, Schlittschuhe. Andere waren ausgesprochen originell. Hester Boulter wünschte sich, >jeden Tag ihr Sonntagskleid tragen und im Wohnzimmer essen zu dürfen<. Hannah Bell möchte >gut in der Schule sein, ohne sich groß anstrengen zu müssen<. Margory White, zehn Jahre alt, wäre gern eine Witwe. Als ich sie fragte, warum, sagte sie ernst, dass die Leute einen, wenn man nicht verheiratet war, eine altejungfer nennen. Ist man aber verheiratet, kommandierte einen der Ehemann herum. Aber wenn man Witwe ist, bestünde weder die eine noch die andere Gefahr. Den bemerkenswertesten Wunsch hatte Sally Bell. Sie wünschte sich >Flitterwochen<. Ich fragte sie, ob sie wüsste, was das wäre. Sie antwortete darauf, es wäre ein besonders schönes Fahrrad, weil ihr Cousin aus Montreal in die Flitterwochen gefahren sei, nachdem er geheiratet hatte, und der hätte schon immer den neuesten Schrei an Fahrrädern besessen!