Ich sagte zu Annetta, dass es sich nicht gehört, anderer Leute Briefe abzuschreiben und so zu tun, als stamme es von ihr. Aber ich fürchte, Annetta hat nur Leid getan, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin.
»Aber ich liebe Sie wirklich«, schluchzte sie. »Es hat alles gestimmt, auch wenn es eigentlich der Pfarrer geschrieben hat.«
Ich brachte es nicht über mich, mit ihr zu schimpfen.
Hier nun Barbara Shaws Brief. Die Tintenkleckse des Originals kann ich nicht wiedergeben.
Liebe Lehrerin,
Sie sagten, wir könnten über einen Besuch schreiben. Ich habe nur einmal einen Besuch gemacht. Das war letzten Winter bei meiner Tante Mary. Meine Tante Mary ist eine ganz besondere Frau und versteht sich auf Hauswirtschaft. Gleich am ersten Abend beim Tee hab ich eine Kanne umgestoßen und kaputtgemacht. Tante Mary sagte, sie hätte die Kanne seit ihrer Heirat und bisher hätte sie noch niemand zerbrochen. Als wir aufstanden, bin ich auf ihr Kleid getreten und alle Fäden gingen aus dem Saum. Am nächsten Morgen, als ich aufstand, bin ich mit dem Wasserkrug gegen das Waschbeckengestoßen und hab beides zerdeppert. Beim Frühstück hab ich eine Tasse Tee auf dem Tischtuch verschüttet. Als ich Tante Mary beim Abwasch half, hab ich einen Teller fallen lassen, der auch zerbrach. Am Abend bin ich die Treppe runtergefallen, hab mir den Fuß verstaucht und musste eine Woche im Bett bleiben. Ich hörte, wie Tante Mary zu Onkel Joseph sagte, was für ein Glück, sonst hätte ich noch alles in dem Haus kaputtgemacht.
Als es mir besser ging, musste ich schon wieder nach Hause fahren. Ich mache nicht gern Besuche. Ich gehe lieber zur Schule, vor allem seit ich nach Avonlea gekommen bin.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Barbara Shaw.
Willie Whites Brief begann folgendermaßen:
Sehr geehrte Miss,
ich möchte Ihnen von meiner Sehr Mutigen Tante erzählen. Sie lebt in Ontario. Eines Tages ging sie nach draußen und entdeckte auf dem Hof einen Hund. Der hatte dort nichts verloren, also holte sie einen Stock, prügelte ihn durchjagte ihn in die Scheune und sperrte ihn ein. Bald danach tauchte ein Mann auf und suchte einen trainierten Löwen (Frage: Willie meinte wohl einen dressierten Löwen?), der aus dem Zirkus weggelaufen war. Es stellte sich heraus, dass der Hund ein Löwe war, und meine Sehr Mutige Tante hatte ihn mit einem Stock in die Scheune gejagt. Es ist ein Wunder, dass sie nicht aufgefresst worden war, aber sehr mutig war sie gewesen. Emerson Gillissagt, wenn sie ihn für einen Hund gehalten hat, war sie nicht mutiger, als wenn es wirklich ein Hund gewesen wäre. Aber Emerson ist neidisch, weil er keine Sehr Mutige Tante hat, sondern nur Onkel.
Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgehoben. Du machst Dich über mich lustig, weil ich Paul für ein Genie halte, aber ich bin sicher, dieser Briefwird Dich davon überzeugen, dass er ein sehr ungewöhnliches Kind ist. Paul wohnt weiter unten am Ufer bei seiner Großmutter und er hat keine Spielkameraden - keine richtigen Spielkameraden. Du erinnerst Dich, dass unser Professor uns gesagt hat, wir dürften keinen der Schüler »bevorzugen*, aber bei Paul Irving kann ich mir nicht helfen, er ist einfach mein Lieblingsschüler. Das ist bestimmt nicht weiter schlimm, denn alle mögen ihn, sogar Mrs Lynde, die es nie für möglich gehalten hätte, dass sie einen Yankee so gern haben könnte. Bei den anderen Jungen in der Schule ist er auch beliebt. Trotz seiner Träumereien und Einfälle wirkt er nicht schwächlich oder mädchenhaft. Er ist geradezu mannhaft und setzt sich bei allen Spielen durch. Neulich hat er mit St. Clair gekämpft, weil er behauptete, der Union Jack als Flagge würde besser ersetzt durch das Sternenbanner. Der Kampf ging unentschieden aus und endete mit dem gegenseitigen Übereinkommen, in Zukunft den Patriotismus des anderen zu respektieren. St. Clair sagt, er könne am härtesten zuschlagen, aber Paul Irving lande die meisten Treffer.
Pauls Brief:
Liebe Lehrerin,
Sie sagten, wir könnten Ihnen über die interessantesten Leute, die wir kennen, schreiben. Die interessantesten, die ich kenne, sind meine Felsen-Menschen und von denen will ich Ihnen erzählen. Bis jetzt habe ich nur Großmutter und Vater davon erzählt, aber ich möchte, dass Sie von ihnen erfahren, weil Sie es verstehen. Die meisten verstehen es sowieso nicht, also hat es keinen Sinn, denen davon zu erzählen.
Meine Felsen-Menschen leben an der Küste. Vor Anbruch des Winters habe ich sie fast jeden Abend besucht. Jetzt kann ich sie erst wieder im Frühling besuchen, aber sie werden da sein, weil es ihnen gefällt, wenn alles beim Alten bleibt - das ist das Schöne an ihnen. Nora habe ich als Erste kennen gelernt, deshalb mag ich sie, glaube ich, auch am liebsten. Sie wohnt in Andrews Höhle, hat schwarze Haare und schwarze Augen und weiß alles über Seejungfern und Wassergeister. Sie sollten sie einmal erzählen hören! Dann sind da die Zwillingssegler. Sie wohnen nirgends, sie segeln die ganze Zeit umher, aber sie kommen oft an den Strand und unterhalten sich mit mir. Sie sind zwei lustige Teerjacken und haben die ganze Welt gesehen - und noch mehr. Wissen Sie, was der jüngste Zwillingssegler einmal erlebt hat? Er segelte so dahin und geradewegs in den Widerschein des Mondes. Ein Widerschein ist die Spur, die der Vollmond aufs Wasser zeichnet, wenn er aus dem Meer aufsteigt. Also, der jüngste Zwillingssegler segelte im Widerschein, bis er beim Mond ankam, und dort gab es eine kleine, goldene Tür. Er öffnete sie und segelte geradewegs hindurch. Auf dem Mond erlebte er sagenhafte Abenteuer, aber der Brief würde zu lang werden, wollte ich sie alle erzählen. Dann ist da noch die Goldene Frau der Höhle. Eines Tages machte ich unten am Strand eine Höhle ausfindig und kletterte hinein und nach einer Weile entdeckte ich die Goldene Frau. Ihr goldenes Haar reicht ihr bis auf die Füße, ihr Kleid glitzert und glänzt wie Gold, das lebt. Sie hat eine goldene Harfe und spielt darauf den lieben, langen Tag - man kann die Musik hören, wenn man sorgsam lauscht, aber die meisten würden es nur für Wind halten, der zwischen den Felsen hindurchstreicht. Nora habe ich nie von der Goldenen Frau erzählt. Ich hatte Angst, es könnte sie kränken. Sogar schon, wenn ich mich zu lange mit den Zwillingsseglern unterhielt, war sie beleidigt.
Ich habe mich mit den Zwillingsseglern immer bei den Gestreiften Felsen getroffen. Der jüngere Zwillingssegler ist sehr gutmütig, aber der ältere kann manchmal schrecklich böse dreinschauen. Ich habe da so meine Vermutungen über den älteren Zwilling. Ich glaube, wenn er sich getraute, würde er unter die Piraten gehen. Er hat wirklich etwas Geheimnisvolles. Einmal hat er geflucht und ich sagte zu ihm, wenn er es noch einmal täte brauchte er nicht mehr ans Ufer zu kommen und sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte meiner Großmutter versprochen, ich würde mich mit jemand, der flucht, nicht abgeben. Da bekam er einen ganz schönen Schrecken, das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich ihm verzeihen würde, so versprach er, würde er mich mit zum Sonnenuntergang nehmen. Als ich also am Abend darauf bei den Gestreiften Felsen saß, kam der ältere Zwilling in einem bezauberndem Boot über das Meer gesegelt und ich kletterte hinein. Das Boot war ganz perlmuttartig und regenbogenfarbig, wie das Innere einer Muschelschale, und das Segel war wie Mondschein. Wir segelten geradewegs hinüber zum Sonnenuntergang. Stellen Sie sich das vor, Miss, ich war im Sonnenuntergang. Und was meinen Sie, wie es dort ist? Der Sonnenuntergang ist ein Land voller Blumen, wie ein großer Garten, und die Wolken sind die Blumenbeete. Wie segelten in einen großen Hafen, der ganz goldfarben war.