Ich stieg aus dem Boot und ging auf eine Wiese, die übersät war mit Butterblumen so groß wie Rosen.
Ich blieb dort eine Ewigkeit. Es kam mir fast wie ein Jahr vor, aber der ältere Zwilling behauptet, es wären nur ein paar Minuten gewesen. Sie sehen also, im Land des Sonnenuntergangs vergeht die Zeit scheinbar viel langsamer als hier bei uns.
Ihr Sie liebender Schüler
Paul Irving
PS: Natürlich ist das alles nicht wahr, Miss Shirley.
P.l.
12 - Ein rabenschwarzer Tag
Eigentlich begann der rabenschwarze Tag mit der vor bohrenden Zahnschmerzen schlaf- und ruhelosen Nacht davor. Als Anne an dem trüben, bitterkalten Wintermorgen aufstand, kam ihr das Leben fade, schal und sinnlos vor.
Sie machte sich, alles andere als gut aufgelegt, auf den Weg zur Schule.
Ihre Backe war geschwollen und das Gesicht tat ihr weh. Das Schulzimmer war kalt und rauchig, weil das Feuer nicht brennen wollte, und die Kinder hatten sich in Grüppchen zitternd aneinander gedrängt. Anne schickte sie in einem schärferen Ton als je zuvor auf ihre Plätze. Anthony Pye stolzierte mit seinem üblichen unverschämten Gehabe auf seinen Platz. Sie sah, wie er seiner Sitznachbarin etwas zuflüsterte und sie dann mit einem Grinsen anschaute.
Noch nie, so kam es Anne vor, hatte es so viele quietschende Stifte gegeben wie an diesem Morgen. Und als Barbara Shaw mit einer Rechenaufgabe nach vorn ans Pult kam, stolperte sie über einen Kohleeimer - was verheerende Folgen nach sich zog. Die Kohle rollte in alle Ecken und Winkel des Zimmers, ihre Tafel zerbrach in tausend Teile. Als sie sich wieder aufrappelte und die Jungen ihr mit Kohlestaub verschmiertes Gesicht sahen, brachen sie in brüllendes Gelächter aus.
Anne wandte sich von der zweiten Klasse ab, die sie im Lesen prüfte. »Herrje, Barbara«, sagte sie eisig, »wenn du dich nicht vom Platz bewegen kannst, ohne über irgendwas zu fallen, dann bleib gefälligst auf deinem Platz sitzen. Es ist wirklich eine Schande für ein Mädchen deines Alters.«
Die arme Barbara stolperte an ihren Tisch zurück. Ihr von Tränen und Kohlestaub verschmiertes Gesicht bot einen wahrhaft grotesken Anblick. Nie zuvor hatte ihre geliebte, verständnisvolle Lehrerin in diesem Ton und in einer solchen Weise mit ihr gesprochen. Es brach Barbara das Herz. Anne hatte Gewissensbisse, aber das machte ihre Verwirrung nur noch größer. Die Schüler der zweiten Klasse erinnern sich noch heute an diese Unterrichtsstunde, ebenso wie an die dann folgende grausame Rechenstunde. Als Anne gerade die Aufgaben einsammelte, erschien völlig außer Atem St. Clair Donnell.
»Du kommst eine halbe Stunde zu spät, St. Clair«, begrüßte Anne ihn eisig. »Warum?«
»Bitte, Miss, ich musste meiner Mutter zum Mittagessen einen Pudding zubereiten helfen, weil wir Besuch erwarten, und Clarice Almira ist krank«, lautete St. Clairs höchst respektvolle Antwort, die aber dennoch unter seinen Mitschülern große Heiterkeit auslöste.
»Setz dich! Zur Strafe rechnest du die sechs Aufgaben im Buch auf Seite 45«, sagte Anne. St. Clair sah einigermaßen verwundert drein ob ihres Tonfalls, ging aber gehorsam an seinen Platz und holte die Tafel hervor. Dann reichte er heimlich Joe Sloane quer über den Gang ein kleines Päckchen. Anne erwischte ihn dabei auf frischer Tat und zog aus dem Muster des Einpackpapiers voreilig einen verhängnisvollen Schluss. Mrs Hiram Sloane hatte sich vor kurzem auf das Backen und Verkaufen von »Nusskuchen« verlegt, um damit ihr dürftiges Einkommen aufzubessern. Die Kuchen stellten vor allem für kleinejungen eine besondere Versuchung dar. Seit einigen Wochen hatte Anne deswegen erheblichen Ärger gehabt. Auf dem Weg zur Schule gaben die Jungen ihr spärliches Taschengeld bei Mrs. Hiram aus, brachten die Kuchen mit zur Schule, verspeisten sie womöglich in den Schulstunden und verteilten sie an ihre Freunde. Anne hatte ihnen gedroht, die Kuchen zu beschlagnahmen, wenn sie weiterhin welche mit zur Schule brächten. Und doch ging St. Clair Donnell eiskalt hin und reichte ein Stück Kuchen weiter, eingepackt in Mrs. Hirams blauweiß gestreiftes Papier - und das vor ihren Augen. »Joseph«, sagte Anne ruhig, »bring das Papier her.«
Joe, verdutzt und beschämt, gehorchte. Er war ziemlich dick und wurde jedes Mal rot und fing an zu stottern, wenn er Angst hatte. Nie sah jemand schuldbewusster aus als Joe in diesem Augenblick.
»Wirf es ins Feuer«, sagte Anne.
Joe schaute fassungslos.
»B-b-b-bitte, M-M-Miss«, begann er.
»Tu, was ich dir sage.Joseph, und kein Wort mehr.«
»A-a-a-ber, M-M-Miss, e-e-e-es sind ...«, keuchte Joe verzweifelt. »Joseph, gehorchst du jetzt oder nicht?«, sagte Anne.
Auch ein mutigerer und selbstbewussterer Junge als Joe Sloane wäre von dem Ton und dem gefährlichen Funkeln in ihren Augen eingeschüchtert gewesen. Dies war eine neue Anne, wie ihre Schüler sie noch nie erlebt hatten. Joe ging mit einem gequälten Blick auf St. Clair zum Ofen, öffnete die große viereckige vordere Ofenklappe und warf das blauweiß gestreifte Papier hinein, noch ehe St. Clair, der aufgesprungen war, etwas sagen konnte. Dann machte Joe gerade noch rechtzeitig einen Satz zur Seite.
Einen Augenblick lang wussten die erschrockenen Schüler und ihre Lehrerin nicht, ob sie ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch überlebt hatten. Das unschuldig aussehende Papier, in dem Anne vorschnell Mrs Hirams Nusskuchen vermutet hatte, enthielt in Wirklichkeit Kracher und Feuerräder. Warren Sloane war am Vortag von St. Clair Donnels Vater extra deswegen in die Stadt geschickt worden. Sie waren für eine Geburtstagsfeier an diesem Abend gedacht. Die Kracher gingen mit einem Donnerknall los, die Feuerräder schossen aus dem Ofen und sausten zischend und spuckend wild durch den Raum. Anne sank bleich vor Entsetzen in ihren Stuhl, alle Mädchen kletterten kreischend auf die Tische. Joe Sloane stand wie gelähmt inmitten des Tumults, St. Clair, der sich vor Lachen nicht halten konnte, bewegte sich taumelnd im Gang auf und ab. Prillie Rogerson fiel in Ohnmacht, Annetta Bell bekam einen Schreikrampf.
Es schien wie eine Ewigkeit, in Wirklichkeit jedoch waren es nur ein paar Minuten, bis das letzte Feuerrad erlosch. Anne, die sich wieder gefasst hatte, riss Tür und Fenster auf, um den Gestank und den Rauch im Raum loszuwerden. Dann half sie den Mädchen, die ohnmächtige Prillie auf den Flur hinauszutragen, wo Barbara Shaw, in dem verzweifelten Wunsch, sich nützlich zu machen, Prillie einen Eimer voll eisigkaltem Wasser über Gesicht und Schulter schüttete, noch ehe sie jemand daran hindern konnte.
Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis wieder Ruhe herrschte -aber dann herrschte eine Stille, die förmlich zum Greifen war. Allen wurde klar, dass auch die Explosion die geistige Verfassung der Lehrerin nicht wieder hergestellt hatte. Niemand, außer Anthony Pye, traute sich auch nur zu flüstern. Ned Clay quietschte beim Rechnen versehentlich mit dem Füller, zog so Annes Aufmerksamkeit auf sich und wünschte, der Boden würde sich auftun und ihn verschlucken. Die Erdkunde-Klasse wurde in einem Tempo durch einen Kontinent gehetzt, dass ihr ganz schwindlig war. Die Sprachlehre-Klasse wurde nach Strich und Faden auseinander genommen und auf Herz und Nieren geprüft. Chester Sloane, der »duftend« mit zwei »f« buchstabierte, bekam das Gefühl, dass diese Schande nie in Vergessenheit geraten würde, weder in dieser Welt noch im Jenseits.