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Anne wusste, dass sie sich zum Gespött gemacht hatte und dass über den Zwischenfall noch an so manchen Tischen an diesem Abend gelacht werden würde, aber das Wissen darum machte sie nur umso wütender. In einer ruhigen Gemütsverfassung hätte sie gelacht und so die Situation gerettet, aber jetzt war das unmöglich. Also ging sie in eisiger Verachtung darüber hinweg.

Als Anne nach dem Mittagessen in die Schule zurückkehrte, saßen alle Kinder wie üblich an ihren Plätzen und hielten voller Fleiß die Köpfe über die Tische gebeugt, bis auf Anthony Pye. Er schaute mit seinen vor Neugier und Spott funkelnden schwarzen Augen über das Buch hinweg Anne an. Anne zog, auf der Suche nach Kreide, die Schublade ihres Tischs auf - und da kam unter ihren Händen eine Maus herausgesprungen, rannte über den Tisch und sprang auf den Boden!

Anne schrie und machte einen Satz rückwärts, so als wäre es eine Schlange, und Anthony Pye brach in lautes Lachen aus.

Dann trat Stille ein — eine unheimliche, bedrohliche Stille. Annetta Bell schwankte, ob sie einen Schreikrampf bekommen sollte oder nicht, vor allem, da sie nicht wusste, wohin die Maus verschwunden war. Aber sie überlegte es sich anders. Wem konnte ein Schreikrampf nützen, wo schon die Lehrerin mit kreidebleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen vor einem stand?

»Wer hat die Maus in die Schublade getan?«, sagte Anne. Sie sprach ziemlich leise, aber Paul Irving lief es kalt den Rücken hinunter. Sie sah Joe Sloane an, der sich von den Haarwurzeln bis in die Fußspitzen schuldig fühlte, aber nur wild stotterte: »I-i-ich n-n-nicht, M-M-Miss, i-i-ich n-n-nicht.«

Anne schenkte dem bedauernswerten Joseph keinerlei Beachtung. Sie sah Anthony Pye an. Anthony erwiderte ihren Blick unerschrocken und nicht beschämt.

»Anthony, warst du es?«

»Ja«, sagte Anthony frech.

Anne nahm ihren Zeigestock vom Tisch. Es war ein langer, kräftiger Zeigestock aus hartem Holz.

»Komm her, Anthony.«

Es war längst nicht die schlimmste Strafe, die Anthony Pye bisher erlebt hatte. Anne, so aufgebracht sie in diesem Augenblick auch war, hätte es nicht fertig gebracht, ein Kind grausam zu bestrafen. Aber der Zeigestock tat ganz schön weh und schließlich schwand Anthonys Heldentümelei. Er zuckte zusammen und Tränen traten ihm in die Augen.

Anne, von Gewissensbissen gepeinigt, ließ den Zeigestock sinken und befahl Anthony an seinen Platz zu gehen. Sie setzte sich beschämt, voller Reue und bitterlich gedemütigt an ihren Tisch. Ihr heftiger Zorn war verraucht. Sie hätte viel darum gegeben, hätte sie sich einfach hinsetzen und ihren Tränen freien Lauf lassen können. Dahin war es mit all ihrer Großtuerei gekommen - sie hatte tatsächlich einen ihrer Schüler verprügelt. Welch ein T riumph für Jane! Und wie Mr Harrison lachen würde! Aber was noch schlimmer war als das, der bitterste Gedanke überhaupt - sie hatte ihre letzte Chance vertan, Anthony Pye für sich einzunehmen. Niemals würde er sie jetzt noch mögen.

Anne hielt mit, wie jemand es genannt hatte, »herkulesähnlicher Anstrengung« die Tränen zurück, bis sie am Abend zu Hause ankam. Sie schloss sich im Ostgiebel ein und weinte all ihre Beschämung, Reue und Enttäuschung in ihr Kopfkissen - weinte so lange, bis Marilla sich Sorgen machte, ins Zimmer kam und wissen wollte, welchen Kummer sie hatte.

»Ich habe etwas auf dem Gewissen«, schluchzte Anne. »Oh, war das ein rabenschwarzer Tag, Marilla. Ich schäme mich so. Ich bin in Wut geraten und habe Anthony Pye geschlagen.«

»Das höre ich gern«, sagte Marilla entschieden. »Das hättest du schon längst tun sollen.«

»0 nein, nein, Marilla. Ich weiß nicht, wie ich den Kindern je wieder ins Gesicht sehen kann. Ich habe mich selbst aufs Tiefste gedemütigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend und hasserfüllt und scheußlich ich war. Paul Irvings Blick will mir nicht mehr aus dem Sinn - er schaute so verwundert und enttäuscht zugleich. Marilla, ich habe mir solche Mühe gegeben, nicht die Geduld zu verlieren und Anthonys Zuneigung zu gewinnen - und jetzt war alles umsonst.«

Marilla strich mit ihrer kräftigen, abgearbeiteten Hand zärtlich über Annes glänzendes, zerzaustes Haar. Als Anne schließlich aufhörte zu weinen, sagte sie sehr sanft zu ihr: »Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen, Anne. Wir alle machen Fehler, aber die Leute vergessen sie. Und rabenschwarze Tage erlebt jeder. Was Anthony Pye angeht, wozu machst du dir Gedanken, wenn er dich nicht mag? Er ist der Einzige, der dich nicht leiden kann.«

»Ich kann mir nicht helfen, ich möchte, dass alle mich mögen. Es tut mir weh, wenn jemand mich nicht mag. Anthony wird mich nun nie mehr mögen. Ich habe mich heute selbst zum Trottel gemacht, Manila. Ich erzähle dir die ganze Geschichte ...«

Marilla hörte sich alles an, und wenn sie über die eine oder andere Passage lachte, so bemerkte Anne es nicht. Als Anne zu Ende war, sagte Marilla lebhaft: »Mach dir nichts daraus. Heute ist vorbei und morgen ist ein neuer Tag, ein blütenreiner Tag, wie du selbst immer sagst. Komm nach unten und iss zu Abend. Du wirst sehen, eine gute Tasse Tee und die Pflaumen-Windbeutel, die ich heute gebacken habe, werden dich aufmuntern.«

»Pflaumen-Windbeutel helfen nicht gegen eine kranke Seele«, sagte Anne untröstlich. Aber Marilla sah es als ein gutes Zeichen an, dass sie sich soweit wieder erholt hatte und es mit dieser Bemerkung quittierte.

Die heitere Versammlung am Abendbrottisch mit den strahlenden Gesichtern der Zwillinge und Marillas unvergleichlichen Pflaumen-Windbeuteln - von denen Davy vier aß - munterten sie schließlich doch auf. In dieser Nacht schlief sie gut, und als sie am Morgen aufwachte, war sie selbst und die Welt wie umgewandelt. Es hatte die ganze Nacht hindurch in leichten dicken Flocken geschneit. Die weiße Pracht, die im kalten Sonnenschein glitzerte, sah aus wie der Mantel der Nächstenliebe, der alle Fehler und Demütigungen der Vergangenheit verhüllte.

»Jeder Morgen ist ein neuer Anfang,

Jeden Morgen ist die Welt wie neu«, sang Anne, als sie sich anzog.

Wegen des Schnees musste sie zur Schule den Weg über die Straße nehmen. Sie hielt es zweifellos für einen gemeinen Zufall, dass sie auf Anthony traf, der sich ebenfalls mühsam den Weg bahnte, als sie aus dem Hohlweg bog. Sie fühlte sich so schuldbewusst, als hätten sie ihre Positionen gewechselt. Aber zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen zog Anthony nicht nur die Mütze - was er noch nie getan hatte sondern sagte leichthin: »Ist schlecht zum Laufen, nicht wahr? Darf ich die Bücher für Sie tragen, Miss?«

Anne reichte ihm die Bücher und fragte sich, ob sie womöglich träumte. Anthony setzte schweigend den Weg fort, und als sie bei der Schule ankamen und Anne die Bücher an sich nahm, lächelte sie ihn an - es war nicht das abgedroschene »freundliche« Lachen, das sie ihm so hartnäckig vorgetäuscht hatte, sondern ein plötzliches Aufleuchten einer echten Kameradschaft. Anthony lächelte - nein, um die Wahrheit zu sagen -, Anthony grinste zurück. Ein Grinsen ist im Allgemeinen nicht ein Ausdruck des Respekts. Und doch spürte Anne plötzlich, dass sie zwar nicht Anthonys Zuneigung gewonnen hatte, aber seinen Respekt genoss.

Mrs Rachel Lynde kam am folgenden Samstag vorbei und bestätigte es. »Na, Anne, du hast also Anthony Pyes Zuneigung gewonnen. Er sagt, irgendwie wärst du ganz in Ordnung, auch wenn du ein Mädchen bist. Er meint, die Trächt Prügel, die du ihm verpasst hast, könnte es mit einer von einem Mann aufnehmen.«

»Trotzdem, ich hatte nie vor, ihn durch eine Tracht Prügel für mich einzunehmen«, sagte Anne ein wenig traurig und fühlte, dass ihre Ideale ein falsches Spiel mit ihr getrieben hatten. »Es stimmt nicht. Ich bin sicher, meine Theorie von der Freundlichkeit kann nicht falsch sein.«

»Nein, aber die Pyes stellen in jeder Beziehung eine Ausnahme dar«, verkündet Mrs Rachel überzeugt.