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»Ich würde mir wünschen, groß und schlank zu sein«, sagte Diana. »Ich würde mir wünschen, berühmt zu sein«, sagte Priscilla.

Anne dachte an ihre Haare und ließ den Gedanken als unwürdig fallen.

»Ich würde mir wünschen, dass in den Herzen aller Menschen auf ewig Frühling wäre«, sagte sie.

»Aber«, sagte Priscilla, »das wäre ja, als wünschte man sich den Himmel auf Erden.«

»Nur ein Stückchen Himmel. Ansonsten würde es Sommer und Herbst geben - ja, und auch ein bisschen Winter. Ich glaube, ich wünsche mir auch im Himmel ab und zu glitzernde, schneebedeckte Felder und Raureif. Du dir nicht, Jane?«

»Ich ... ich weiß nicht«, sagte Jane unbehaglich. Jane war ein liebes Mädchen, versuchte gewissenhaft ihrem Beruf gemäß zu leben und glaubte alles, was man sie gelehrt hatte. Aber sie dachte nie mehr als nötig über den Himmel nach.

»Minnie May hat mich neulich gefragt, ob wir im Himmel unsere Sonntagskleider tragen«, lachte Diana.

»Und du hast nicht gesagt, dass das stimmt?«, fragte Anne.

»Jesses nein! Ich habe zu ihr gesagt, dass wir uns dort über Kleider überhaupt keine Gedanken mehr machen.«

»Oh, ich glaube schon ... ein bisschen«, sagte Anne ernst. »In der Ewigkeit hat man viel Zeit dazu, ohne wichtigere Sachen zu vernachlässigen. Ich glaube, wir werden schöne Kleider tragen - das heißt, Kleidung ist wohl der passendere Ausdruck. Die ersten paar Jahrhunderte möchte ich etwas Rosafarbenes tragen - so lange würde es dauern, bis ich es leid wäre. Mir gefällt Rosa so, und auf dieser Welt kann ich nie rosa Kleider anziehen.«

Hinter den Fichten führte der Weg hinab auf eine sonnige kleine Lichtung, wo eine Holzbrücke einen Bach überspannte. Vor ihnen lag in vollem Glanz ein sonnenbeschienener Buchenwald. Die Luft schien wie durchsichtiger goldener Wein, die Blätter waren frisch und grün und auf dem Waldboden bildeten die vibrierenden Sonnenstrahlen ein Mosaik. Hier standen noch mehr wilde Kirschbäume und da war eine kleine Senke mit mächtigen Tannen. Schließlich kamen sie an einen so steilen Hügel, dass die Mädchen ganz außer Atem kamen, als sie hinaufkletterten. Aber als sie die Spitze und offenes Gelände erreichten, erwartete sie die schönste aller Überraschungen. Dahinter erstreckten sich die rückwärtig der Farmen gelegenen Felder, die bis an die höher gelegene Carmody-Straße reichten. Direkt vor ihnen, von Buchen und Tannen umschlossen, aber nach Süden hin offen, war ein kleiner Garten - oder was einmal ein Garten gewesen war. Eine mit Moos und Gras bewachsene verfallene Steinmauer umschloss den Garten. Entlang der Ostseite stand, weiß wie eine einzige Schneewehe, eine Reihe von Kirschbäumen. Man konnte noch die alten Pfade erkennen, in der Mitte standen in einer Zweierreihe Rosensträucher. Aber alles Übrige war übersät mit gelben und weißen Narzissen in ihrer zartesten, verschwenderischsten, über das üppige Grün der Gräser im Winde sich wiegenden Pracht.

»Oh, wie wunderschön!«, riefen drei zugleich aus. Anne schaute nur in beredtem Schweigen.

»Wie um alles auf der Welt ist es möglich, dass hier einmal ein Garten war?«, sagte Priscilla verwundert.

»Es muss Hester Grays Garten sein«, sagte Diana. »Meine Mutter hat einmal davon erzählt, aber ich habe ihn noch nie gesehen und ich hätte nicht gedacht, dass es ihn noch gibt. Du kennst die Geschichte, Anne?«

»Nein, aber der Name kommt mir bekannt vor.«

»Du hast ihn bestimmt auf dem Friedhof gesehen. Sie liegt hinten in der Ecke bei den Pappeln begraben. Du kennst doch diesen kleinen braunen Grabstein mit den sich öffnenden Toren darauf, auf dem in Stein gemeißelt steht: >Zum Gedenken an Flester Gray, 22Jahre.< Jordan liegt rechts von ihr begraben, aber er hat keinen Grabstein. Mich wundert, dass Marilla dir nie davon erzählt hat, Anne. Naja, es ist vor dreißig Jahren geschehen und in Vergessenheit geraten.«

»Nun, dann lass uns die Geschichte hören«, sagte Anne. »Setzen wir uns in die Narzissen, hier gibt’s Hunderte davon, sie haben sich ja überall verbreitet. Es sieht aus, als hätte der Garten einen Teppich aus Mond- und Sonnenschein zugleich. Das war eine lohnenswerte Entdeckung. Das muss man sich mal vorstellen, da lebe ich seit sechs Jahren keine Meile von hier entfernt und habe ihn noch nie gesehen! Also, Diana, jetzt erzähle.«

»Vor langer Zeit«, begann Diana, »gehörte diese Farm dem alten Mr David Gray. Er wohnte nicht hier; er wohnte dort, wo jetzt Silas Sloane wohnt. Er hatte einen Sohn,Jordan, und der ging eines Winters nach Boston, um dort zu arbeiten. Er verliebte sich in ein Mädchen namens Hester Murray. Sie arbeitete in einem Laden und hasste ihre Arbeit. Sie war auf dem Land aufgewachsen und wollte immer dorthin zurückkehren. Als Jordan um ihre Hand anhielt, sagte sie, sie würde ihn heiraten, wenn er mit ihr an irgendein ruhiges Fleckchen ziehen würde, wo es weit und breit nichts als Felder und Wälder gab. Also nahm er sie mit nach Avonlea. Mrs Lynde sagt, er wäre ein großes Risiko eingegangen, dass er eine Yankee heiratete, und es stimmte, dass Hester sehr schwächlich war und so gut wie nichts von Hauswirtschaft verstand. Aber meine Mutter sagt, dass sie sehr hübsch und reizend war und Jordan sie regelrecht anbetete. Jedenfalls, Mr Gray überließ Jordan diese Farm und der baute hier hinten ein kleines Haus, in dem Jordan und Hester viele Jahre lang lebten. Sie ging nur selten außer Haus, und außer Mrs Lynde und meiner Mutter kam sie kaum einmal jemand besuchen. Jordan legte für sie diesen Garten an. Sie werkelte begeistert darin herum und verbrachte die meiste Zeit hier. Sie war keine gute Hausfrau, aber sie hatte ein Händchen für Blumen. Dann wurde sie krank. Meine Mutter meint, sie wäre schon krank gewesen, bevor sie hierher kam. Sie hat nie wirklich das Bett hüten müssen, aber sie wurde immer schwächer. Jordan hatte niemanden, der sie hätte pflegen können. Er hat sich ganz allein um sie gekümmert. Meine Mutter sagt, er war so sanft und gütig wie eine Frau. Tag für Tag hat er sie in ihr Tuch gewickelt und sie nach draußen in den Garten gebracht. Sie hätte ganz glücklich auf einer Bank gelegen. Man sagt, Jordan hätte sich jeden Abend und jeden Morgen neben sie hinknien und mit ihr zusammen darum beten müssen, dass sie, wenn ihre Zeit kam, draußen im Garten sterben möge. Ihr Gebet wurde erhört. Eines Tages trugjordan sie nach draußen auf die Bank, pflückte alle blühenden Rosen ab und bedeckte Hester über und über mit ihnen. Sie lächelte ihn nur an . . . schloss die Augen . . . Und das«, sagte Diana leise, »war das Ende.«

»Was für eine hübsche Geschichte«, seufzte Anne und wischte sich die Tränen ab.

»Was wurde aus Jordan?«, fragte Priscilla.

»Nach Hesters Tod verkaufte er die Farm und kehrte nach Boston zurück. Mr Jabez Sloane kaufte die Farm und baute das kleine Haus weiter oben an der Straße wieder auf. Jordan starb ungefähr zehn Jahre später, wurde nach Hause überführt und neben Hester begraben.«

»Ich verstehe nicht, warum sie so abgeschieden leben wollte«, sagte Jane.

»Oh, das kann ich gut verstehen«, sagte Anne nachdenklich. »Obwohl ich selbst nicht so leben wollte, weil ich, sosehr ich die Wälder und Felder liebe, auch die Menschen liebe. Aber bei Hester kann ich es verstehen. Sie hatte den Lärm der Großstadt und das Gewimmel von Menschen satt, von denen sich nicht einer um sie scherte. Sie wollte dem entfliehen an einen friedlichen Ort, wo sie ihre Ruhe hatte. Hier fand sie, was sie suchte, was wohl nicht vielen Menschen im Leben vergönnt ist. Sie verlebte vier wundervolle Jahre, ehe sie starb —vier Jahre vollkommenen Glücks. Darum wurde sie wohl auch mehr beneidet als bemitleidet. Und dann seine Augen schließen und von Rosen bedeckt entschlafen und der, den man über alles geliebt hat, lächelt einem zu . . . ich glaube, es war schön!«

»Sie hat die Kirschbäume da drüben angepflanzt«, sagte Diana. »Sie hat meiner Mutter erzählt, sie hätte nie auch nur eine einzige Kirsche gegessen, aber sie wolle in dem Wissen sterben, dass etwas, das sie gepflanzt hatte, weiterlebte und dazu beitrug, die Welt zu verschönern.«