»Ich bin ja so froh, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben«, sagte Anne mit glänzenden Augen. »Heute ist mein Wunsch-Geburtstag, wie ihr wisst, und dieser Garten und seine Geschichte ist mein Geschenk. Hat deine Mutter dir je erzählt, wie Hester Gray ausgesehen hat, Diana?«
»Nein, nur dass sie hübsch war.«
»Da bin ich aber froh, weil ich mir vorstellen kann, wie sie ausgesehen hat, ohne dass mir Tatsachen den Blick verstellen. Bestimmt war sie sehr schlank und schmal, hatte leicht gewelltes dunkles Haar und große, hübsche, schüchterne, braune Augen und ein ernstes blasses Gesicht.«
Die Mädchen ließen die Körbe in Hesters Garten stehen, streiften den ganzen Nachmittag durch den Wald, kamen an Feldern entlang und entdeckten viele hübsche abgeschiedene Fleckchen und Pfade. Als sie Hunger bekamen, hielten sie an der schönsten Stelle überhaupt ihr Picknick - am steilen Ufer eines gurgelnden Baches, wo weiße Birken aus langem fiedrigem Gras emporragten. Die Mädchen ließen sich nieder und machten sich über Annes Köstlichkeiten her. Auch die »unpoetischen« Sandwiches wurden angesichts des herzhaften Appetits der vier, angeregt von der vielen Bewegung in der frischen Luft, dankbar angenommen. Anne hatte Gläser und Limonade für ihre Gäste mitgenommen, aber sie selbst trank kühles Wasser aus dem Bach aus einer aus Birkenrinde geformten Tasse. Die Tasse leckte und das Wasser schmeckte nach Erde, wie Wasser aus einem Bach im Frühling eben schmeckt.
»Schaut mal, seht ihr das Gedicht?«, sagte sie plötzlich und zeigte auf etwas.
»Wo?« Jane und Diana schauten, als erwarteten sie, in Runenschrift geschriebene Verse an den Birken zu entdecken.
»Da, unten im Bach, das alte moosbewachsene Stück Holz, über das in sanften, sich brechenden Wellen das Wasser fließt. Und dieser einzelne Sonnenstrahl, der schräg darauf fällt und bis tief in den Bach scheint. Oh, das ist das schönste Gedicht, das ich je gesehen habe.«
»Ich würde es eher als ein Bild bezeichnen«, sagte Jane. »Ein Gedicht besteht aus Zeilen und Versen.«
»Du lieber Himmel, nein!« Anne schüttelte entschieden ihren mit weichen wilden Kirschblüten bekränzten Kopf. »Zeilen und Verse sind nur die äußere Verkleidung eines Gedichts, sie sind nicht das Eigentliche, so wenig deine Rüschen und Krausen dich ausmachen, Jane. Das eigentliche Gedicht ist die Seele, die darin steckt - und das Schöne dort ist die Seele eines ungeschriebenen Gedichts. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man eine Seele zu sehen bekommt - auch nicht die eines Gedichts.«
»Wie eine Seele, eine Menschenseele, wohl aussehen mag?«, fragte Priscilla verträumt.
»So wie das da, denke ich«, antwortete Anne und deutete auf das strahlende Sonnenlicht, das durch eine Birke drang. »Natürlich mit einem Körper und Gesichtszügen. Ich stelle mir gern vor, dass Seelen aus Licht bestehen. Und manche sind voller rosenroter Punkte . . . und manche glitzern sanft wie Mondschein auf dem Meer... und manche sind matt und durchsichtig wie Dunst in der Morgendämmerung.«
»Ich habe irgendwo einmal gelesen, Seelen wären wie Blumen«, sagte Priscilla.
»Dann ist deine Seele eine goldene Narzisse«, sagte Anne, »und Dianas ist wie eine rote, rote Rose. Janes ist eine Apfelblüte, rosa wie ein Apfel und süß im Geschmack.«
»Und deine ist ein weißes Veilchen mit purpurroten Streifen in der Mitte«, sagte Priscilla.
Jane flüsterte Diana zu, sie verstünde wirklich nicht - konnte sie das? -, worüber sich die beiden unterhielten.
Die Mädchen gingen im stillen goldenen Licht des Sonnenuntergangs nach Hause. Ihre Körbe hatten sie gefüllt mit Narzissen aus Hesters Garten, von denen Anne am nächsten Tag einige mit zum Friedhof nahm und auf Hesters Grab legte. Rotkehlchen pfiffen in den Tannen ihr Lied und im Sumpf quakten die Frösche. Die Täler waren in topasfarbenes und smaragdenes Licht getaucht.
»Nun, es war doch ein herrlicher Tag«, sagte Diana, so als hätte sie das kaum erwartet, als sie sich auf den Weg machten.
»Es war wirklich ein traumhafter Tag«, sagte Priscilla.
»Ich mag die Wälder sehr«, sagte Jane.
Anne sagte nichts. Sie blickte in die Ferne und nach Westen in den Himmel und dachte an die kleine Hester Gray.
14 - Eine Gefahr wird abgewendet
An einem Freitagabend war Anne auf dem Nachhauseweg vom Postamt, als Mrs Lynde, die sich wie üblich mit anderer Leute Angelegenheiten befasste, sich ihr anschloss.
»Ich war gerade bei Timothy Cotton, um zu sehen, ob Alice Louise mir nicht ein paar Tage zur Hand gehen kann«, sagte sie. »Sie hat mir letzte Woche geholfen, und auch wenn sie nicht eine der schnellsten ist, immer noch besser als gar keine Hilfe. Aber sie ist krank und kann nicht kommen. Timothy sitzt auch da und hustet und jammert. Er liegt schon seit zehn Jahren im Sterben und er wird auch die nächsten zehn Jahre noch im Sterben liegen. Die Sorte Mensch kann nicht einmal sterben und es gut sein lassen - die kann einfach nichts bis zu Ende durchhalten, nicht einmal eine Krankheit. Es ist eine furchtbar träge Familie und was aus ihr werden soll, ich weiß es nicht, Gott mag es wissen.«
Mrs Lynde seufzte, als ob sie das in diesem Fall doch anzweifelte. »Manila war am Dienstag wieder wegen ihrer Augen beim Spezialisten, nicht wahr? Was hat er gemeint?«, fuhr sie fort.
»Er war sehr angetan«, strahlte Anne. »Es wäre viel besser geworden und es bestünde nicht mehr die Gefahr, dass sie ihr Augenlicht ganz verliert. Aber sie darf nicht wieder viel lesen oder feine Handarbeiten machen. Wie geht es mit den Vorbereitungen für den Basar voran?« Das Familienhilfswerk traf Vorbereitungen für einen Basar und für ein Abendessen und Mrs Lynde hielt alle Fäden in der Hand.
»Ganz gut... das erinnert mich an was. Mrs Allan fände es schön einen Stand zu machen, der aussieht wie eine alte Küche, und zum Abendessen gebackene Bohnen, Krapfen, Pastete und so weiter zu servieren. Wir sammeln überall altertümliche Küchengeräte. Mrs Simon Fletcher borgt uns die geflochtenen Teppiche ihrer Mutter aus und Mrs. Levi Boulter ein paar alte Stühle. Tante Mary Shaw leiht uns ihren Küchenschrank mit den Glastüren. Manila gibt uns doch ihre Messingkerzenständer? Und wir brauchen möglichst viel altes Geschirr. Mrs. Allan ist vor allem ganz erpicht darauf, eine richtige Servierplatte aus Porzellan zu bekommen, falls wir eine auftreiben können. Aber niemand scheint eine zu besitzen.«
»Mrs Josephine Barry hat eine. Ich schreibe ihr und frage sie, ob sie sie uns für diese Gelegenheit ausborgt«, sagte Anne.
»Oh, wenn du das tun könntest. Das Abendessen soll in vierzehn Tagen stattfinden. Onkel Abe Andrew hat für die Zeit Regen und Sturm vorhergesagt. Das ist ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass wir schönes Wetter haben werden.«
Dem besagten »Onkel Abe«, das sollte vielleicht erwähnt werden, erging es wie anderen Propheten - er galt nichts im eigenen Lande. Er war geschätzt wie ein bewährter alter Witz, denn nur wenige seiner Wettervorhersagen waren je eingetroffen. Mr Elisha Wright bemerkte dazu immer, dass niemand in Avonlea je auf die Idee käme, einen Blick in die Wettermeldungen der Charlettetown-Nachrichten zu werfen. Nein, sie fragten einfach Onkel Abe, wie das Wetter am nächsten Tag werden würde, und nahmen das Gegenteil an. Onkel Abe ließ sich davon nicht beirren und machte auch weiterhin seine Vorhersagen.
»Der Basar soll noch vor Beginn der Wahlen stattfinden«, fuhr Mrs Lynde fort. »Die Kandidaten haben fest zugesagt zu kommen und verschwenden ohnehin jede Menge Geld. Die Konservativen bestechen die Rechten und die Linken, also sollte man ihnen einmal eine Chance geben ihr Geld ehrenwert auszugeben.«
Anne war aus Treue zu Matthew eine glühende Konservative, aber sie sagte nichts. Sie war nicht so dumm und veranlasste Mrs Lynde sich über Politik auszulassen.