Mrs Lynde sah mit einer entschiedenen Was-kann-schon-Gutes-von-woanders-herkommen-Miene auf alle Leute herab, die das Pech hatten, nicht auf Prince Edward Island geboren worden oder aufgewachsen zu sein. Es mochten vielleicht anständige Leute sein, gewiss, aber das zog man besser erst einmal in Zweifel. Ein besonderes Vorurteil hatte sie gegen »Yankees«. Ihr Mann war von seinem früheren Arbeitgeber in Boston einmal um zehn Dollar betrogen worden. Weder Engel noch Erzengel noch sonstige himmlische Mächte hätten Mrs Rachel davon überzeugen können, dass dafür nicht die gesamten Vereinigten Staaten verantwortlich waren.
»Die Schule von Avonlea wird wegen ihm keinen Schaden davontragen«, sagte Manila trocken. »Wenn der Junge auch nur ein bisschen seinem Vater nachschlägt, dann ist er ganz in Ordnung. Steve Irving war der netteste Junge weit und breit, auch wenn manche ihn für eingebildet hielten. Mrs Irving ist bestimmt sehr froh um den Jungen. Sie ist so allein, seit ihr Mann gestorben ist.«
»Oh, der Junge mag ja in Ordnung sein, aber er ist anders als die Kinder aus Avonlea«, sagte Mrs Rachel, so als wäre damit der Fall abgehakt. Mrs Rachels Aussagen über Leute, Orte und Dinge waren immer schnell erschöpft. »Was höre ich da, Anne, du willst einen Dorfverschönerungs-Verein gründen?«
»Ich habe nur mit ein paar Mädchen und Jungen im letzten Debattierclub darüber gesprochen«, sagte Anne und wurde rot. »Sie fanden die Idee ganz gut - und Mr und Mrs Allan auch. Es gibt solche Vereine jetzt in vielen Orten.«
»Du handelst dir damit nur endlos Ärger ein. Lass es lieber, Anne, das sage ich. Die Leute wollen das nicht.«
»Es geht doch nicht um die Leute, sondern um Avonlea. Man könnte einiges tun, um es zu verschönern. Wenn wir zum Beispiel Mr Levi Boulter dazu überreden könnten, dieses hässliche alte Haus auf seiner oberen Farm abzureißen - wäre das etwa keine Verschönerung?«
»Natürlich wäre es das«, räumte Mrs Rachel ein. »Diese alte Ruine ist allen schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Aber das will ich sehen, wie ihr Levi Boulter zu irgendetwas, das der Allgemeinheit dient und wofür er nicht bezahlt wird, bewegen könnt. Nicht dass ich dich entmutigen will, Anne, vielleicht ist ja was dran an deiner Idee. Aber ich nehme an, dass du das aus irgendeiner albernen Yankee-Zeitschrift hast. Du hast doch alle Hände voll zu tun mit der Schule. Lass es dir von einer Freundin geraten sein und plage dich nicht mit diesen Dingen herum. Ach, na ja, wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, tust du es ja doch. So warst du schon immer.«
Ein entschlossener Zug um Annes Lippen zeugte davon, dass Mrs Rachel in dieser Einschätzung nicht so falsch lag. Anne war ganz und gar davon beseelt, den Dorfverschönerungs-Verein zu gründen. Gilbert Blythe, der in White Sands unterrichtete, aber jeden Freitagabend bis Montagmorgen zu Hause war, war begeistert von der Idee. Die meisten jungen Leute waren bereit, bei allem, was gelegentliche Treffen und also »Spaß« bedeutete, mitzumachen. Worin genau die »Verschönerungen« bestehen sollten, war niemandem so recht klar, außer Anne und Gilbert. Sie hatten darüber gebrütet und Pläne geschmiedet, bis in ihren Köpfen ein vollkommenes Avonlea existierte. Mrs Rachel wusste noch eine Neuigkeit zu berichten. »An der Schule in Carmody wird eine Priscilla Grant unterrichten. Bist du nicht in Queen’s mit ihr auf die Schule gegangen, Anne?«
»Ja, sicher. Priscilla an der Schule von Carmody! Wie wunderbar!«, rief Anne, deren graugrüne Augen aufleuchteten, dass sie aussahen wie Abendsterne, was Mrs Lynde dazu veranlasste, sich wieder einmal zu fragen, ob sie die Frage, ob Anne Shirley nun hübsch war oder nicht, je zu ihrer Zufriedenheit lösen würde.
02 - Schnell verkauft, lang gereut
Anne fuhr am folgenden Nachmittag zusammen mit Diana Barry zu einem Einkaufsbummel nach Carmody. Diana würde natürlich auch im Dorfverschönerungs-Verein mitmachen und die beiden sprachen den ganzen Weg nach Carmody und zurück kaum über etwas anderes.
»Als Allererstes sollten wir den Saal streichen«, sagte Diana, als sie am Gemeindesaal von Avonlea vorbeifuhren. Es war ein ziemlich schäbiges Gebäude mitten in einer bewaldeten Senke, das von allen Seiten von Fichten verdeckt wurde. »Es ist ein Schandfleck. Wir müssen es in Angriff nehmen, bevor wir Mr Levi Boulter zu überzeugen versuchen, sein Haus abzureißen. Vater sagt, das würde uns nie gelingen. Levi Boulter sei zu knauserig, um dafür seine Zeit zu verschwenden.«
»Vielleicht lässt er es die Jungen machen, wenn sie versprechen, die Balken hinunterzubefördern und Kleinholz für ihn daraus zu machen«, sagte Anne hoffnungsvoll. »Wir müssen alles Menschenmögliche tun und uns damit abfinden, dass es anfangs langsam vorangeht. Wir können nicht alles auf einmal erreichen. Wir müssen eben zuerst das öffentliche Interesse dafür wecken.«
Diana war nicht ganz klar, was »öffentliches Interesse« bedeutete. Aber es klang gut und sie war mächtig stolz darauf, einem Verein, der ein solches Ziel im Auge hatte, anzugehören.
»Gestern Abend ist mir noch eine Idee gekommen, Anne. Du kennst doch dieses dreieckige Stück Land, wo die Straßen von Carmody, Newbridge und White Sands aneinander stoßen? Es ist ganz mit jungen Fichten bewachsen. Aber wie wäre es, wenn man die Fichten entfernen und nur ein paar Birken stehen lassen würde?«
»Eine glänzende Idee«, stimmte Anne begeistert zu. »Unter die Birken stellen wir eine rustikale Holzbank. Und im Frühjahr legen wir in der Mitte ein Geranienbeet an!«
»Ja, wir müssen nur Mrs Hirma Sloane dazu bringen, dass sie ihre Kuh von dort fern hält, sonst frisst sie noch unsere Geranien«, lachte Diana. »Mir dämmert allmählich, was du mit >das öffentliche Interesse wecken< meinst, Anne. Nämlich zum Beispiel dieses verfallene Haus der Boulters. Hat man je so ein hässliches Gemäuer gesehen? Und steht auch noch direkt an der Straße! Ein altes Haus ohne ein heiles Fenster erinnert mich immer an einen Toten, dem die Augen ausgepickt wurden.«
»Ein altes leer stehendes Haus ist einfach ein trauriger Anblick«, sagte Anne verträumt. »Mir kommt es vor, als dächte es über die Vergangenheit nach und trauerte den schönen alten Zeiten nach. Marilla sagt, vor langer Zeit hätte in dem Haus eine große Familie gelebt. Es wäre wirklich schön gewesen, mit einem netten Garten und ganz bewachsen mit Rosen, ln dem Haus wohnten viele kleine Kinder, es war von Lachen und Singen erfüllt. Jetzt steht es verlassen da, niemand außer dem Wind streift noch darin herum. Wie einsam und traurig es sich fühlen muss! Vielleicht kehren sie alle in mondhellen Nächten zurück - die Geister der kleinen Kinder aus uralten Zeiten, die Rosen und die Lieder. Und für eine kleine Weile kann das alte Haus träumen, es wäre wieder jung und von Freude erfüllt.«
Diana schüttelte den Kopf.
»Ich stelle mir nie so etwas vor, Anne. Erinnerst du dich nicht mehr, wie ärgerlich meine Mutter und Marilla waren, als wir uns einbildeten, im Geisterwald hausten Gespenster? Bis heute traue ich mich in der Dunkelheit nicht mehr durch diesen Wald. Und wenn ich anfinge, mir beim alten Boulter-Haus so was vorzustellen, würde ich mich daran auch nicht mehr vorbeitrauen. Außerdem sind die Kinder nicht tot. Sie sind längst erwachsen und bester Dinge. Eins der Kinder ist Metzger. Und Blumen und Lieder haben sowieso keine Geister.« Anne unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sie hatte Diana wirklich gern, sie waren immer gute Freundinnen gewesen. Aber ihre Wanderungen ins Reich der Phantasie musste sie allein antreten. Der Weg dorthin führte über einen verwunschenen Pfad, wohin nicht einmal ihre liebste Freundin ihr zu folgen vermochte.