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Als Anne eben unter den überhängenden Buchenzweigen hervor auftauchte, hörte sie Corcoran sagen:»Wenn Sie Amesbury wählen, Parker ... na ja, dann hätte ich da noch ein Scheinchen für die Eggen, die Sie im Frühjahr bekommen haben. Sie hätten doch nichts dagegen, das Geld zurückzubekommen, was?«

»Hm... tja, wenn Sie das so sehen«, sagte Judson gedehnt und mit einem Grinsen, »das ließe sich schon machen, ln diesen schlechten Zeiten muss man sehen, wo man bleibt.«

In diesem Augenblick sahen sie Anne und die Unterhaltung endete abrupt. Anne grüßte kühl, ging weiter und streckte das Kinn noch weiter vor als sonst. Bald überholte Judson Parker sie.

»Willst du mitfahren, Anne?«, fragte er freundlich.

»Danke, nein«, erwiderte Anne höflich, aber mit einer feinen Verachtung in der Stimme, die selbst den nicht sehr empfindsamen Judson Parker wie Nadelstiche traf. Er wurde rot und drehte wütend die Zügel in den Händen. Aber im nächsten Augenblick besann er sich eines anderen. Er sah Anne beunruhigt an, wie sie weiterging und nicht nach links und nach rechts schaute. Hatte sie Corcorans unmissverständliches Angebot und sein allzu bereites Eingehen darauf gehört? Zum Teufel mit diesem Corcoran! Wenn er seine Absichten nicht in weniger gefährliche Worte kleiden konnte, würde er über kurz oder lang noch Ärger bekommen. Und zum Teufel mit rothaarigen Lehrerinnen, die aus Buchenwäldern auftauchen, in denen sie nichts zu suchen hatten. Wenn Anne es gehört hatte, so jedenfalls glaubte Judson Parker, der andere Leute nach seinen eigenen Maßstäben beurteilte, würde sie es überall herum erzählen. Nun, Judson Parker gab, wie sich gezeigt hat, nicht übermäßig viel auf die öffentliche Meinung. Aber als jemand dazustehen, der Bestechungsgeld angenommen hatte, wäre eine höchst unangenehme Sache. Und wenn es je Isaac Spencer zu Ohren kam, dann ade mit all den Hoffnungen auf Louisa Jane und ihren beruhigenden Einkünften als Erbin eines wohlhabenden Farmers. Judson Parker wusste, dass Mr Spencer ihn ohnehin etwas misstrauisch beäugte. Er konnte es sich nicht leisten ein Risiko einzugehen.

»Ähm ... Anne, ich hatte dich sowieso noch aufsuchen wollen wegen dieser Sache, über die wir neulich gesprochen haben. Ich habe mich nun doch entschieden, den Zaun der Firma nicht zur Verfügung zu stellen. Einen Verein mit Zielen, wie ihr sie verfolgt, sollte man unterstützen.«

Anne ließ sich überhaupt nicht aus der Reserve locken.

»Vielen Dank«, sagte sie.

»Und . . . und ... du brauchst diese kleine Unterhaltung mit Jerry ja nicht laut werden zu lassen.«

»Das habe ich nicht vor«, sagte Anne eisig, denn eher hätte sie sämtliche Zäune von Avonlea mit Reklame bemalen lassen, als sich auf einen Handel mit einem Mann, der seine Stimme verkaufte, einzulassen.

»Recht so . . . recht so«, stimmtejudson zu und fand, dass sie einander bestens verstanden. »Das hätte ich von dir auch nicht angenommen. Natürlich habe ich Jerry nur an der Nase herumgeführt - er hält sich für verteufelt klug und gescheit. Ich denke nicht daran, für Amesbury zu stimmen. Ich wähle wie immer Grant - das kannst du bei der Wahl selbst feststellen. Ich habe Jerry nur dazu verlockt, um zu sehen, ob er tatsächlich so weit geht. Und das mit dem Zaun geht so in Ordnung ... du kannst es den Verschönerern ausrichten.«

»Es gibt eben alle möglichen Sorten von Menschen auf der Welt, wie man so schön sagt, aber manche könnte man entbehren«, sagte Anne an dem Abend im Ostgiebel zu sich im Spiegel. »Ich hätte die schändliche Sache sowieso keiner Menschenseele gegenüber erwähnt, also habe ich in dem Punkt ein reines Gewissen. Ich weiß wirklich nicht, wem oder was sein Sinneswandel zu verdanken ist. Ich jedenfalls habe ihn nicht bewerkstelligt und es ist kaum anzunehmen, dass bei Politikern wiejudson Parker und Jerry Corcoran Gott seine Hände im Spiel hat.«

15 - Ferienbeginn

An einem ruhigen, strahlendhellen Nachmittag schloss Anne die Schultür zu. Der Wind summte in den Fichten auf dem Schulhof und die Bäume am Waldrand warfen lange, unbewegte Schatten. Sie steckte den Schlüssel mit einem zufriedenen Seufzer in die Tasche. Das Schuljahr war um, und da alle mit ihr zufrieden waren, war sie für das nächste wieder eingestellt worden - nur Mr Harmon Andrews hatte gesagt, sie solle öfter den Stock benutzen. Jetzt winkten ihr zwei herrliche Monate wohlverdienter Ferien. Anne war im Einklang mit sich und der Welt, als sie mit ihrem Korb voll Blumen in der Hand den Hügel hinunterging. Seit die ersten Frühlingsblumen blühten, hatte Anne nicht ein einziges Mal ihren allwöchentlichen Gang zu Matthews Grab versäumt. Alle in Avonlea, außer Marilla, hatten bereits den stillen, schüchternen, unbedeutenden Matthew Cuthbert vergessen. Aber in Anne war die Erinnerung an ihn lebendig und würde es immer bleiben. Sie konnte diesen guten Mann nicht vergessen, der ihr all die Liebe und Zuneigung gegeben hatte, nach der sie sich in ihrer Kindheit so gesehnt hatte.

Am Fuße des Hügels saß im Schatten der Fichten ein Junge auf dem Zaun - ein Junge mit großen, verträumten Augen und einem schönen ausdrucksstarken Gesicht. Er schwang sich hinunter und schloss sich lächelnd Anne an. Aber er hatte geweint.

»Ich habe auf Sie gewartet, weil ich mir dachte, dass Sie auf den Friedhof gehen«, sagte er und schob seine Hände in ihre. »Ich gehe auch dahin. Ich will diesen Strauß Geranien von Großmutter auf Großvater Irvings Grab legen. Und schauen Sie, diesen Strauß weiße Rosen lege ich zum Gedenken an meine Mutter neben Großvaters Grab, weil ich ihr Grab nicht besuchen kann. Aber meinen Sie nicht auch, sie weiß es trotzdem?«

»Ja, ganz bestimmt, Paul.«

»Verstehen Sie, genau heute vor drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Das ist eine lange, lange Zeit, aber es tut noch immer genauso weh ... und ich vermisse sie noch genauso. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich es nicht aushalten, so weh tut es.«

Pauls Stimme und seine Lippen zitterten. Er sah auf die Rosen und hoffte, dass seine Lehrerin die Tränen in seinen Augen nicht bemerkte.

»Und doch«, sagte Anne sehr sanft, »würdest du nicht wollen, dass es aufhört weh zu tun. Du würdest deine Mutter nicht vergessen wollen, selbst wenn du es könntest.«

»Nein, bestimmt nicht, genauso empfinde ich es auch. Sie verstehen immer alles so gut, Miss. Bei niemand sonst ist das so, nicht einmal bei meiner Großmutter, obwohl sie sehr gut zu mir ist. Höchstens noch bei meinem Vater, aber trotzdem habe ich nie viel mit ihm über meine Mutter geredet, weil ihm dann so elend zumute wurde. Wenn er sich die Hand vors Gesicht legte, wusste ich schon immer, dass ich besser aufhöre damit. Armer Vater, er muss sich schrecklich allein fühlen ohne mich. Aber verstehen Sie, er hat jetzt nur die Haushälterin und er meint, Haushälterinnen eignen sich nicht dafür, kleinejungen aufzuziehen, vor allem, wo er aus geschäftlichen Gründen sooft von zu Hause weg ist. Großmütter eignen sich besser, sie kommen gleich nach den Müttern. Eines Tages, wenn ich groß bin, gehe ich zurück zu meinem Vater und wir werden uns nie wieder voneinander trennen.«

Paul hatte ihr so viel von seiner Mutter und seinem Vater erzählt, dass es Anne vorkam, als würde sie sie kennen. Seine Mutter musste ihm im Temperament und im Charakter sehr ähnlich gewesen sein. Und Stephen Irving stellte sie sich ziemlich zurückhaltend, tiefgründig und empfindsam vor, was er vor allen ängstlich verbarg.

»Mit meinem Vater wird man nicht so leicht warm«, hatte Paul einmal gesagt. »Ich habe ihn erst richtig kennen gelernt, nachdem meine Mutter gestorben war. Aber wenn man ihn erst einmal richtig kennt, ist er großartig. Ihn mag ich am liebsten von allen auf der Welt, dann Großmutter Irving und dann Sie. Ich würde Sie gleich nach meinem Vater am liebsten mögen, wenn es nicht meine Pflicht wäre, erst Großmutter zu mögen, weil sie so viel für mich tut. Sie verstehen schon. Allerdings wünschte ich, sie würde mir die Kerze dalassen, bis ich eingeschlafen bin. Sie nimmt sie immer gleich, wenn sie mich zugedeckt hat, mit hinaus und sagt, ich solle nicht so ein Angsthase sein. Ich habe keine Angst, aber trotzdem hätte ich gern eine Kerze. Meine Mutter hat sich immer zur mir ans Bett gesetzt und meine Hand gehalten, bis ich eingeschlafen war. Bestimmt hat sie mich verwöhnt. Mütter tun das manchmal, wissen Sie.«