Nein, das wusste Anne nicht, obwohl sie es sich vorstellen konnte. Sie dachte traurig an ihre »Mutter«, die Mutter, die sich Anne als eine »vollkommene Schönheit« vorgestellt hatte und die vor so langer Zeit gestorben und neben ihrem noch so jungen Ehemann in dem Grab weit weg, das niemand besuchte, begraben worden war. Anne hatte an ihre Mutter keine Erinnerung und sie beneidete Paul fast darum. »Nächste Woche habe ich Geburtstag«, sagte Paul, als sie den weiten roten Hügel hinaufgingen, der von der Junisonne erwärmt wurde. »Mein Vater hat mir geschrieben, dass er mir etwas schicken würde, über das ich mich wie verrückt freuen würde. Es muss schon angekommen sein, weil Großmutter die Schublade im Bücherschrank abgeschlossen hat und das hat sie noch nie getan. Als ich sie danach fragte, tat sie nur geheimnisvoll und sagte, kleine Jungen sollten nicht so neugierig sein. Ein Geburtstag ist aufregend, nicht wahr? Ich werde elf Jahre alt. Das hätten Sie nicht gedacht, nicht wahr? Großmutter findet, ich wäre für mein Alter sehr klein. Es käme nur daher, weil ich nicht genug Porridge äße. Ich tue mein Bestes, aber Großmutter lädt den Teller immer randvoll - geizig ist Großmutter nicht, das kann ich Ihnen sagen. Seit Sie und ich uns damals auf dem Nachhauseweg von der Sonntagsschule über das Beten unterhalten haben - wo Sie sagten, man müsste all seine Sorgen ins Gebet einschließen -, seither hab ich jeden Abend gebetet, dass Gott mir gnädig sein und mir die Kraft geben möge, dass ich morgens meine Porridge bis auf den letzten Krümel aufessen kann. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht geschafft. Ob das nun daran liegt, dass Gott mir nicht gnädig ist oder weil es einfach zu viel Porridge ist, das kann ich wirklich nicht sagen. Großmutter behauptet, mein Vater wäre mit Porridge groß gezogen worden und in seinem Fall hat es ja auch prima geklappt. Sie sollten mal sehen, was der für Schultern hat! Aber irgendwann«, sagte Paul mit einem Seufzer und nachdenklicher Miene, »bringt mich dieses Porridge noch um.«
Da Paul sie nicht ansah, lächelte Anne in sich hinein. Ganz Avonlea wusste, dass die alte Mrs Irving ihren Enkelsohn nach dem altbewährten Methoden der Ernährung und Erziehung aufzog. »Hoffentlich nicht, mein Lieber«, sagte sie fröhlich. »Wie geht es deinen Felsen-Menschen? Benimmt sich der älteste Zwilling noch anständig?«
»Das muss er«, sagte Paul bestimmt. »Er weiß, dass ich mich mit ihm nicht abgebe, wenn er sich nicht ordentlich benimmt. Er ist ein böser Bursche, finde ich.«
»Hat Nora schon die Sache mit der Goldenen Frau herausgefunden?«
»Nein, aber ich glaube, sie hat Verdacht geschöpft. Ich bin mir fast sicher, dass sie mich das letzte Mal, als ich zur Höhle ging, beobachtet hat. Mir macht es nichts aus, wenn sie dahinterkommt - ich möchte es nur ihretwegen nicht, um sie nicht zu kränken. Aber wenn sie es unbedingt herausfinden will, ist ihr auch nicht zu helfen.«
»Wenn ich abends einmal mit dir ans Ufer gehen würde, meinst du, ich könnte die Felsen-Menschen auch sehen?«
Paul schüttelte ernst den Kopf.
»Nein, ich glaube nicht, dass Sie meine Felsen-Menschen sehen könnten. Ich als Einziger kann sie sehen. Aber Sie könnten Ihre eigenen Felsen-Menschen finden. Sie gehören zu der Sorte Mensch, die das kann. Wir gehören beide zu der Sorte. Sie verstehen schon«, fügte er hinzu und drückte ihr freundschaftlich die Hand. »Ist es nicht großartig, zu der Sorte Mensch zu gehören?«
»Großartig«, stimmte Anne zu und grüne strahlende Augen sahen in blaue strahlende Augen. Anne und Paul wussten beide:
»So schön auch das Land, nur Phantasie öffnet den Blick hinein.«
Und beide kannten den Weg in dieses glückliche Land. Dort blühten in den Tälern und an den Flüssen immerwährende Glücksrosen; keine Wolke verdunkelte den strahlenden Himmel; nie ertönte ein Misston von den süß klingenden Glocken; und verwandte Seelen gab es in Hülle und Fülle. Das Wissen, wo dieses Land »östlich der Sonne, westlich des Mondes« liegt, ist unschätzbar und gibt es auf keinem Markt zu kaufen. Es muss ein Geburtstagsgeschenk der guten Feen sein und die Jahre können es nicht verunstalten und es einem nicht nehmen. Es ist mehr wert, es zu besitzen, mag man auch in einer Dachkammer wohnen, als in einem Palast zu wohnen und es nicht zu besitzen.
Der Friedhof von Avonlea war wie eh und je mit Gras bewachsen und lag abgeschieden da. Gewiss, die Verschönerer kümmerten sich darum und Priscilla hatte vor dem letzten Treffen des Vereins einen Aufsatz über Friedhöfe gelesen, ln nächster Zukunft wollte der Verein den mit Flechten bewachsenen wackligen alten Bretterzaun durch einen ordentlichen Drahtzaun ersetzen, das Grün mähen und die umgekippten Grabsteine aufrichten lassen.
Anne legte die mitgebrachten Blumen auf Matthews Grab und ging dann hinüber zu der kleinen von Pappeln beschatteten Ecke, wo Hester Gray begraben lag. Seit jenem Frühjahr-Picknick hatte sie jedes Mal, wenn sie Matthews Grab besuchte, auch Blumen auf Hesters Grab gelegt. Am Abend zuvor war sie zu dem kleinen abgeschiedenen Garten im Wald gewandert und hatte welche von Hesters eigenen weißen Rosen gepflückt.
»Ich dachte, sie gefallen Ihnen besser als irgendwelche anderen, meine Liebe«, sagte sie leise.
Anne saß noch immer dort, als ein Schatten auf das Gras fiel. Sie sah auf und erblickte Mrs Allan. Zusammen gingen sie nach Hause.
Mrs Allans Gesicht war nicht mehr das der jungen Braut, die der Pfarrer vor fünf Jahren mit nach Avonlea gebracht hatte. Es hatte an rosiger Frische und Jugendlichkeit verloren, um Augen und Mund zeigten sich feine Linien. Ein kleines Grab auf eben diesem Friedhof war schuld daran, ein paar neue Fältchen waren hinzugekommen, als ihr Sohn krank geworden war. Inzwischen allerdings hatte er alles heil überstanden. Aber Mrs Allans Grübchen zeigten sich so unvermutet und waren so niedlich wie eh und je, wie ihre Augen hell und strahlend und aufrichtig waren.
»Du freust dich sicher auf die Ferien, Anne?«, sagte sie, als sie den Friedhof verließen.
Anne nickte.
»Ja, das Wort zergeht mir auf der Zunge wie ein Leckerbissen. Es wird bestimmt ein herrlicher Sommer. Denn im Juli kommt Mrs Morgan auf die Insel und Priscilla und sie wollen uns besuchen. Beim bloßen Gedanken daran überläuft mich wie früher eine Gänsehaut.«
»Ich hoffe, du verlebst eine schöne Zeit, Anne. Du hast im vergangenen Jahr hart gearbeitet und einiges erreicht.«
»Ach, ich weiß nicht. Ich habe so viele Ziele nicht erreicht. Ich habe längst nicht das geschafft, was ich mir vorgenommen habe, als ich letzten Herbst in der Schule anfing. Ich bin meinen Idealen nicht gerecht geworden.«
»Das gelingt keinem«, sagte Mrs Allan mit einem Seufzer. »Du weißt auch, Anne, was Lowell dazu sagt: >Nicht das Scheitern, sondern zu niedrig gesteckte Ziele sind ein Vergehen.< Wir brauchen Ideale und müssen sie zu erreichen versuchen, auch wenn uns das nie ganz gelingt. Ohne Ideale wäre das Leben traurig. Ideale machen es großartig und grandios. Halte an deinen Idealen fest, Anne.«
»Ich werde es versuchen. Aber ich habe fast alle meine Theorien sausen lassen«, sagte Anne und lachte ein wenig. »Ich hatte die schönsten Theorien, die man sich nur vorstellen kann, als ich in der Schule anfing, aber eine nach der anderen erwies sich, wenn es darauf ankam, als ein Fehlschlag.«
»Auch die von der Prügelstrafe«, neckte Mrs Allan sie.