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Aber Anne wurde rot.

»Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Anthony geschlagen habe.«

»Unsinn, Liebes, er hatte es verdient. Es hat ihm gut getan. Seither hast du keinen Ärger mehr mit ihm gehabt und er findet dich einmalig. Mit Freundlichkeit hast du seine Zuneigung gewonnen und ihm seine dumme Idee >ein Mädchen taugt nichts< ein für alle Mal ausgetrieben.«

»Vielleicht hatte er es verdient, aber das ist nicht der Punkt. Hätte ich ruhig und überlegt entschieden, ihm eine Tracht Prügel zu geben, weil ich es für eine angemessene Strafe hielt, dann würde ich jetzt anders darüber denken. Aber die Wahrheit ist, Mrs Allan, dass ich in Wut geraten bin und ihn deshalb verprügelt habe. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es richtig oder falsch ist... auch wenn er es nicht verdient gehabt hätte, hätte ich ihn verprügelt. Das ist das Niederschmetternde.«

»Wir machen alle Fehler, meine Liebe, vergiss es also. Wir sollten unsere Fehler bedauern und aus ihnen lernen, aber sie nicht weiter mit uns herumschleppen. Da fahrt Gilbert Blythe mit dem Fahrrad ... wohl auch auf dem Nachhauseweg in die Ferien. Wie kommt ihr mit dem Lernen voran?«

»Ganz gut. Heute Abend wollen wir den Vergil abschließen. Es sind nur noch zwanzig Zeilen. Dann fangen wir erst im September wieder an zu lernen.«

»Meinst du, du gehst irgendwann noch einmal aufs College?«

»Ich weiß nicht.« Anne blickte verträumt in die Ferne zum opalfarbenen Horizont. »Mit Marillas Augen wird es nicht besser; wir können schon froh sein, dass es nicht noch schlechter wird. Und dann sind da die Zwillinge - irgendwie glaube ich nicht so recht, dass ihr Onkel sie zu sich holen wird. Vielleicht liegt das College ja hinter der Biegung in der Straße, aber bis jetzt bin ich nicht zur Biegung gelangt und denke nicht weiter darüber nach, damit ich nicht unzufrieden werde.«

»Ich fände es gut, wenn du aufs College gingest, Anne. Aber wenn nichts daraus wird, sei nicht traurig. Irgendwie leben wir unser Leben, wo auch immer. Das College ermöglicht uns nur ein bequemeres Leben. Je nachdem, was wir daraus machen, ist es ein erfülltes oder ein unerfülltes Leben. Man kann hier, überall, ein reiches und erfülltes Leben leben, wenn man nur lernt, sein Herz voll und ganz dem Reichtum und der Fülle zu öffnen.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Anne nachdenklich. »Da ist so viel, wofür ich dankbar bin, so viel - meine Arbeit, Paul Irving, die lieben Zwillinge und alle meine Freunde. Wissen Sie, ich bin so dankbar für Freundschaft. Sie verschönt das Leben.«

»Wahre Freundschaft ist in der Tat sehr hilfreich«, sagte Mrs Allan. »Man sollte sie in Ehren halten und niemals durch Unaufrichtigkeit oder Unehrlichkeit trüben. Ich fürchte, Freundschaft wird oft mit einer Art Vertrautheit verwechselt, die nichts mit wirklicher Freundschaft zu tun hat.«

»Ja, wie bei Gertie Pye und Julia Bell. Sie tun sehr vertraut und unternehmen alles zusammen. Aber Gertie zieht hinter Julias Rücken dauernd über sie her und alle denken, sie wäre eifersüchtig auf sie, weil sie sich immer so freut, wenn jemand an Julia etwas auszusetzen hat. Eine Schande, so was als Freundschaft zu bezeichnen. Man sollte in seinen Freunden nur das Beste sehen und ihnen sein Bestes geben, meinen Sie nicht? Dann ist Freundschaft das Schönste auf der Welt.«

»Freundschaft ist etwas Schönes«, lächelte Mrs Allan, »aber eines Tages . ..«

Dann brach sie abrupt ab. In dem zarten hellen Gesicht an ihrer Seite mit den aufrichtigen Augen und ausdrucksvollen Zügen lag noch viel mehr von einem Kind als von einer Frau. Anne war voller Träume von Freundschaft und hehren idealen. Mrs Allan wollte ihr nicht ihre jugendliche Unverdorbenheit nehmen. Also brach sie den Satz ab, um ihn erst in einigen Jahren zu vervollständigen.

16 - Hoffnung und was daraus werden kann

»Anne«, sagte Davy anklagend und kletterte auf das glänzende Ledersofa in der Küche von Green Gables, auf dem Anne saß und einen Brief las. »Anne, ich habe schrecklichen Hunger. Du machst dir keine Vorstellung.«

»Ich mache dir gleich ein Butterbrot«, sagte Anne abwesend. Der Brief enthielt offensichtlich einige aufregende Neuigkeiten, denn ihren Wangen waren so rot wie die Strauchrosen draußen und ihre Augen strahlten, wie nur Annes Augen strahlen konnten.

»Aber ich habe keinen Butterbrot-Hunger«, sagte Davy angewidert. »Ich hab Pflaumenkuchen-Hunger.«

»Oh«, lachte Anne, legte den Brief beiseite, nahm Davy in den Arm und drückte ihn. »Dann wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen, Davy-Junge. Du kennst Manilas Grundsatz, dass du zwischen den Mahlzeiten höchstens ein Butterbrot essen darfst.«

»Na gut, dann gibt mir eins... bitte.«

Davy war endlich beigebracht worden, »bitte« zu sagen, aber meist setzte er es wie einen nachträglichen Einfall ans Ende. Er sah zustimmend auf die großzügige Scheibe, die Anne ihm bald darauf brachte. »Du schmierst immer so schön dick Butter drauf, Anne. Marilla streicht immer nur ziemlich dünn Butter drauf. Mit viel Butter flutscht es viel besser hinunter.«

Das Butterbrot »flutschte« bestens hinunter, so schnell wie es verschwunden war. Davy rutschte kopfvoran vom Sofa, schlug zwei Purzelbäume auf dem Teppich, setzte sich dann auf und verkündete bestimmt: »Anne, das mit dem Himmel hab ich mir überlegt. Ich will nicht dahin.«

»Warum nicht?«, fragte Anne ernst.

»Weil der Himmel auf Simon Fletchers Speicher ist und Simon Fletcher kann ich nicht leiden.«

»Der Himmel auf . . . Simon Fletchers Speicher?«, sagte Anne, schnappte nach Luft und konnte vor Verwunderung nicht einmal lachen. »Davy Keith, wie kommst du auf die Idee?«

»Milty Boulter hat das gesagt und zwar am letzten Sonntag nach der Sonntagsschule. Die Unterrichtsstunde drehte sich um Elia und Elisa. Ich bin aufgestanden und hab Miss Rogerson gefragt, wo der Himmel ist. Sie war sowieso schon ärgerlich, weil, als sie uns gefragt hatte, was Elia Elisa hinterließ, nachdem er in den Himmel gekommen war, sagte Milty Boulter: >Sein altes Zeugs.< Wir anderen haben gar nicht nachgedacht und haben alle gelacht. Ich wollte, man könnte erst überlegen, bevor man etwas tut, weil dann würde man es nicht tun. Aber Milty wollte nicht frech sein. Ihm fiel dies Dings nur nicht ein. Miss Rogerson sagte, der Himmel sei dort, wo Gott sei. Ich solle gefälligst nicht solche Fragen stellen. Milty stupste mich an und flüsterte mir zu: >Der Himmel ist auf Onkel Simons Speicher, ich erklär dir das auf dem Weg nach Hause.< Also hat er es mir auf dem Weg nach Hause erklärt. Milty ist ganz groß im Erklären. Sogar wenn er von einer Sache überhaupt keine Ahnung hat, lässt er sich einen Haufen Zeug einfallen und so kriegt man es doch erklärt. Seine Mutter ist die Schwester von Mrs Simon und mit ihr ist er zur Beerdigung gegangen, als seine Cousine Jane Ellen gestorben ist. Der Pfarrer sagte, sie sei im Himmel, aber Milty behauptet, dass sie direkt vor ihnen im Sarg lag und dass sie den Sarg hinterher auf den Speicher bringen würden. Naja, als Milty und seine Mutter nach der Beerdigung nach oben gingen, um den Hut von seiner Mutter zu holen, fragte er sie, wo der Himmel wäre, in dem Jane Ellen sei. Sie zeigte genau auf die Decke und sagte: >Da oben!< Milty war klar, dass da über der Decke nichts anderes als der Speicher war. So hat er es herausgefunden. Seitdem hat er jedes Mal eine fürchterliche Angst davor, zu Onkel Simon zu gehen.«

Anne zog Davy auf ihre Knie und gab sich alle Mühe, diesen Wirrwarr theologischer Fragen zu entwirren. Sie eignete sich für diese Aufgabe viel besser als Marilla, denn sie rief sich ihre eigene Kindheit in Erinnerung und verstand instinktiv, welch seltsame Vorstellungen Siebenjährige manchmal von Dingen haben, die Erwachsenen natürlich ganz klar und verständlich sind. Sie hatte Davy mit Erfolg klarmachen können, dass der Himmel nicht auf Simon Fletchers Dachboden ist, bis Marilla aus dem Garten kam, wo sie zusammen mit Dora Erbsen gepflückt hatte. Dora war ein fleißiges Persönchen. Nichts machte sie glücklicher, als wenn sie bei verschiedenen kleinen Arbeiten, die sie mit ihren pummeligen Händen erledigen konnte, »helfen« konnte. Sie fütterte die Hühner, spülte das Geschirr und erledigte kleinere Besorgungen. Sie war gefällig, gewissenhaft und aufmerksam. Man musste ihr nie etwas zweimal sagen, sie vergaß nie eine ihrer kleinen Pflichten. Davy dagegen war ziemlich unachtsam und vergesslich. Aber er hatte von Natur aus etwas Einnehmendes und nach wie vor mochten Anne und Marilla ihn lieber.