Während Dora stolz die Erbsen palte und Davy aus den Schoten Boote anfertigte, mit Masten aus Streichhölzern und Segeln aus Papier, berichtete Anne Marilla von der wundervollen Nachricht in dem Brief.
»Oh, Marilla, denk doch nur! Priscilla hat mir einen Brief geschrieben. Sie schreibt, dass Mrs Morgan auf der Insel ist. Wenn am Donnerstag gutes Wetter ist, wollen sie nach Avonlea kommen und so gegen zwölf Uhr hier sein. Sie verbringen den Nachmittag bei uns und gehen am Abend ins Hotel in White Sands, weil dort einige von Mrs Morgans amerikanischen Freunden absteigen. Oh, Marilla, ist das nicht wunderbar? Ich kann kaum glauben, dass es kein Traum ist.«
»Mrs Morgan ist auch nicht viel anders als andere Leute«, sagte Marilla trocken, obwohl sie auch ein kleines bisschen aufgeregt war. Mrs Morgan war eine berühmte Frau und ein Besuch von ihr, das kam nicht alltäglich vor. »Dann werden sie also zum Mittagessen hier sein?«
»Ja, und Marilla, darf ich alles allein vorbereiten? Ich möchte mich der Verfasserin des Rosenknospen-Gartens erkenntlich zeigen - und sei es nur, dass ich ein Mittagessen für sie koche. Du hast doch nichts dagegen, nicht wahr?«
»Ach je, ich bin nicht versessen darauf, im Juli an einem heißen Feuer zu stehen und zu kochen. Es macht mir nichts aus, wenn jemand mir die Arbeit abnimmt. Du darfst gern übernehmen.«
»0 danke«, sagte Anne, so als hätte Marilla ihr soeben einen Riesengefallen erwiesen. »Ich stelle gleich jetzt das Menu zusammen.«
»Du solltest es besser nicht allzu vornehm machen«, warnte Marilla, die der hochtrabende Ausdruck »Menu« in leichte Unruhe versetzte. »Nachher handelst du dir noch ganz schön Ärger ein.«
»Ich werde es überhaupt nicht >vornehm< machen, wenn du damit andere Sachen meinst, als wir zu festlichen Angelegenheiten sonst auch machen«, versicherte Anne. »Das wäre Heuchelei. Mag ja sein, dass ich nicht so vernünftig und beständig bin, wie man mit siebzehn und als Lehrerin sein sollte - doch so dumm bin ich auch wieder nicht. Aber alles soll so köstlich und lecker schmecken wie nur möglich. Davy, Junge, lass die Erbsenhülsen nicht da auf den Treppenstufen liegen, jemand könnte darauf ausrutschen. Als Vorspeise gibt es eine leichte Suppe - du kennst doch meine phantastische Zwiebelcremesuppe - und dann gibt es Brathuhn. Ich brauche dafür die zwei weißen Hühner. Ich habe sie zwar ins Herz geschlossen - sie waren wie Haustiere, seit die graue Henne die zwei ausgebrütet hat, diese kleinen gelben Daunenkugeln. Aber eines Tages müssten sie sowieso geschlachtet werden und welche Gelegenheit eignet sich dazu besser als diese! Aber, Marilla, ich bringe es nicht über mich, sie zu schlachten - nicht einmal Mrs Morgan zuliebe. Ich muss John Carter bitten, dass er es macht.«
»Ich mache es«, bot sich Davy freiwillig an, »wenn Marilla sie an den Beinen festhält, weil ich ja beide Hände brauche, um das Beil zu halten. Es ist schrecklich lustig zuzusehen, wie sie umhertaumeln, wenn die Köpfe abgeschlagen sind.«
»Als Gemüse gibt es Erbsen, Bohnen, Kartoffelpürree und grünen Salat«, fuhr Anne fort, »und zum Nachtisch Zitronentörtchen mit Schlagsahne und Kaffee und Käse und Löffelbiskuits. Die Kuchen und die Löffelbiskuits backe ich morgen und ich richte mein Musselinkleid her. Ich muss es gleich heute Diana erzählen, denn sie wollte auch ihr Kleid herrichten. Mrs Morgans Heldinnen tragen fast immer weiße Musselinkleider und Diana und ich haben abgemacht, dass wir auch weiße Musselinkleider anziehen für den Fall, dass wir Mrs Morgan kennen lernen. Das ist ein wirklich schönes Kompliment, findest du nicht? Davy-Schatz, du sollst keine Erbsenhülsen in die Ritzen stecken. Außerdem muss ich Mr und Mrs Allan und Miss Stady zum Mittagessen einladen, weil sie Mrs Morgan auch unbedingt kennen lernen wollen. Es ist wirklich ein Gücksfall, dass sie gerade jetzt herkommt, wo Mrs Stacy da ist. Davy-Schatz, lass die Erbsenhülsen nicht im Wassereimer herumschwimmen, geh damit nach draußen zum Wassertrog. Oh, hoffentlich ist Donnerstag schönes Wetter. Bestimmt ist es das, denn Onkel Abe hat gestern Abend gesagt, als er bei Mr Harrison vorbeischaute, dass es fast die ganze Woche regnen würde.«
»Das ist ein gutes Omen«, stimmte Marilla zu.
Am Abend lief Anne hinüber nach Orchard Slope, um Diana, die auch ganz aufgeregt wurde, all die Neuigkeiten zu berichten. Sie besprachen die Angelegenheiten in der Hängematte unter den großen Weiden im Barry’schen Garten.
»Oh, Anne, darf ich dir nicht beim Kochen helfen?«, flehte Diana. »Du weißt, ich kann phantastischen Salat machen.«
»Sicher darfst du das«, sagte Anne selbstlos. »Und du könntest mir auch beim Schmücken helfen. Das Wohnzimmer soll aussehen wie eine einzige Blütenstube und den Esstisch will ich mit wilden Rosen schmücken. Ich hoffe nur, dass alles glatt verläuft. Mrs Morgans Heldinnen setzen sich nie in die Nesseln oder geraten in eine peinliche Lage. Sie sind immer so selbstbeherrscht und unglaublich gute Hauswirtschafterinnen. Sie scheinen geborene Hauswirtschafterinnen zu sein. Du erinnerst dich doch an diese Gertrude, in Gefährliche Zeiten«, die mit ganzen acht Jahren ihrem Vater den Haushalt führt. Als ich acht Jahre alt war, hatte ich keine Ahnung von nichts, außer wie man Kinder aufzieht. Mrs Morgan muss eine Autorität in Bezug auf Mädchen sein, wo sie so viel über sie geschrieben hat. Sie soll auch von uns einen guten Eindruck bekommen. Ich habe mir alles schon auf ein Dutzend verschiedene Arten ausgemalt — wie sie aussehen wird und was sie sagen wird und was ich sagen werde. Ich mache mir die ganze Zeit Gedanken wegen meiner Nase. Wie du siehst, sind sieben Sommersprossen darauf. Beim Picknick habe ich sie bekommen, als ich ohne Hut in der Sonne herumlief. Vielleicht ist es undankbar, dass ich mir deswegen Gedanken mache, wo ich dankbar sein kann, dass ich nicht wie früher im ganzen Gesicht welche habe. Aber ich wollte wirklich, ich hätte keine bekommen. Mrs Morgans Heldinnen sehen allesamt einfach vollkommen aus. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur eine mit Sommersprossen darunter wäre.«
»Sie fallen kaum auf«, tröstete Diana. »Reibe sie heute Nacht einfach mit ein wenig Zitronensaft ein.«
Am nächsten Tag backte Anne die Törtchen und die Löffelbiskuits, richtete ihr Kleid her und fegte sämtliche Zimmer und wischte Staub -ein völlig unnötiges Unterfangen, denn Green Gables war dank Marilla wie immer tipptopp sauber. Aber Anne hielt ein Körnchen Staub in einem Haus, das mit einem Besuch von Charlotte E. Morgan beehrt wurde, für eine Schande. Sie räumte sogar den Schrank »für alles Mögliche« unter der Treppe auf, obwohl nicht die geringste Möglichkeit bestand, dass Mrs Morgan ihn zu Gesicht bekam.
»Aber ich will das Gefühl haben, dass er bestens aufgeräumt ist, auch wenn sie ihn nicht zu sehen bekommt«, sagte Anne zu Marilla. »Weißt du, in ihrem Buch >Goldene Schlüssel< lässt sie ihre beiden Heldinnen nach dem Motto von Longfellows Vers handeln:
>Wenn ehedem ein Kunstwerk entstand,
der Baumeister vorging mit sorgsamer Hand,
in jedem Augenblick und in jedem Zimmer,
Denn die Gottheiten, sie sehen es immer.<
Also haben sie die Kellerstufen stets geschrubbt und sie fegten auch immer unter den Betten. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich wüsste, das der Schrank nicht aufgeräumt ist, wenn Mrs Morgan im Haus ist. Seit Diana und ich letzten April >Goldene Schlüssel< gelesen haben, haben wir den Vers auch zu unserem Motto gemacht.«