Am Nachmittag schlachteten John Henry Carter und Davy die beiden weißen Hühner. Anne rupfte sie - wie immer eine unangenehme Arbeit, die sich in ihren Augen angesichts der Bestimmung der fetten Vögel jedoch verklärte.
»Ich hasse es, Hühner zu rupfen«, sagte sie zu Marilla, »aber ist es nicht ein Glück, dass man nicht mit dem Herzen bei dem sein muss, was die Hände tun? Mit den Händen habe ich Hühner gerupft, aber in Gedanken bin ich durch die Milchstraße gewandert.«
»Du hast mehr Federn als normal auf dem Fußboden verstreut«, bemerkte Marilla.
Dann brachte Anne Davy ins Bett und nahm ihm das Versprechen ab, dass er sich am nächsten Tag tadellos benehmen würde.
»Wenn ich mich morgen den ganzen Tag lang so gut es nur geht benehme, darf ich mich dann übermorgen den ganzen Tag lang so schlecht es nur geht benehmen?«, fragte Davy.
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte Anne vorsichtig. »Aber wenn du dich gut benimmst, nehme ich dich und Dora mit auf eine Bootsfahrt, und bei den Sanddünen gehen wir an Land und picknicken.«
»Abgemacht«, sagte Davy. »Ich werde brav sein, und ob! Eigentlich wollte ich zu Mr Harrison gehen und mit meinem neuen Schießgewehr mit Erbsen auf Ginger schießen, aber das geht auch an einem anderen Tag. Ich schätze, es wird wie sonntags, aber ein Picknick am Ufer macht das wieder wett.«
17 - Ein Unglück kommt selten allein
Anne wachte dreimal in der Nacht auf und ging jedes Mal ans Fenster, um sich zu vergewissern, dass Onkel Abes Vorhersage nicht eintraf. Endlich dämmerte klar und strahlend der Morgen. Der Himmel schimmerte silbrig glänzend, der herrliche Tag war angebrochen. Diana erschien kurz nach dem Frühstück mit einem Korb voll Blumen über dem einen Arm und ihrem Musselinkleid über dem anderen -sie würde es erst anziehen können, wenn alle Vorbereitungen für das Mittagessen erledigt waren. Solange trug sie ihr rosafarbenes Baumwollkleid und eine Batistschürze mit wundervollen Rüschen und Krausen; adrett, hübsch und rosig sah sie aus.
»Du siehst einfach süß aus«, sagte Anne bewundernd.
Diana seufzte.
»Aber ich musste schon wieder sämtliche Kleider weiter machen. Seit Juli habe ich vier Pfund zugenommen. Wo soll das noch enden, Anne? Mrs Morgans Heldinnen sind allesamt groß und schlank.«
»Vergessen wir die Sorgen und denken wir lieber an unser Glück«, sagte Anne fröhlich. »Mrs Allan sagte, immer wenn einen etwas quält, soll man auch an etwas Nettes denken, was man dem entgegensetzen kann. Du bist vielleicht ein wenig zu dick, aber dafür hast du niedliche Grübchen. Ich habe zwar Sommersprossen auf der Nase, aber dafür habe ich eine sehr schöne Nase. Meinst du, der Zitronensaft hat etwas geholfen?«
»Ja, ich denke schon«, sagte Diana abwägend. Aufgemuntert ging Anne voran in den Garten, der voll luftiger Schatten und flimmernden goldenen Lichts war.
»Als Erstes schmücken wir das Wohnzimmer. Wir haben viel Zeit.
Priscilla meinte, sie würde um zwölf, spätestens um halb eins hier sein, also essen wir um eins zu Mittag.«
Mag sein, dass es in dem Augenblick irgendwo in Kanada oder den Staaten zwei glücklichere und aufgeregtere Mädchen gab, aber ich bezweifle es. Mit jedem Schnippeln der Schere, als Rosen, Pfingstrosen und Glockenblumen abgeschnitten wurden, schien es zu zwitschern: »Heute kommt Mrs Morgan.« Anne fragte sich, wie Mr Harrison es fertig brachte und in aller Seelenruhe auf dem Feld jenseits des Wegs Weiterarbeiten konnte, so als wäre nichts.
Das Wohnzimmer von Green Gables war ein ziemlich schlichter dunkler Raum mit stabilen, mit Rosshaar gepolsterten Sitzmöbeln, steifen Spitzengardinen und weißen Sofaschonern, die stets tadellos ausgelegt waren, außer wenn irgendein Pechvogel mit dem Knopf daran hängen blieb. Anne hatte das Zimmer nie schöner gestalten dürfen, denn Marilla duldete keine Veränderungen. Aber was kann man mit Blumen nicht alles bewirken, wenn man sie nur richtig zur Geltung bringt. Als Anne und Diana mit dem Zimmer fertig waren, war es nicht wieder zu erkennen: Auf dem blank gewischten Tisch stand eine große Vase mit Schneebällen. Der glänzende schwarze Kaminsims war überhäuft mit Rosen und Farnblätter. Auf jedem Brett des Bücherschranks stand ein Sträußchen Glockenblumen. Die dunklen Ecken an beiden Seiten des Kamins wurden aufgehellt von Krügen voll leuchtend roter Pfingstrosen, der Kamin selbst war entflammt mit gelbem Mohn. All die Blütenpracht, die Farben und das Sonnenlicht, das durch die vielen Blätter der Geißblattreben vor den Fenstern fiel und tanzende Schatten auf Wände und Fußboden warf, verwandelten den sonst düsteren Raum in die »Laube« aus Annes Vorstellung. Er rang sogar Marilla Bewunderung ab, die hereinkam, um ihn sich kritisch zu betrachten, und dann voll des Lobes war.
»Jetzt müssen wir den Tisch decken«, sagte Anne wie eine Priesterin, die im Begriff ist, eine heilige Handlung zu Ehren einer Gottheit vorzunehmen. »Wir stellen eine große Vase mit wilden Rosen in die Mitte, eine einzelne Rose vor jeden Teller, und einen extra Strauß mit noch nicht aufgeblühten Rosen für Mrs Morgan — als Anspielung auf den >Rosenknospen-Garten<, verstehst du.«
Sie deckten den Tisch im Wohnzimmer mit Marillas feinstem Tischtuch und bestem Porzellan, Gläsern und Silberbesteck. Jedes Teil, das auf den Tisch kam, war poliert und so blank geputzt, dass es nur so glitzerte und glänzte.
Dann gingen die Mädchen in die Küche. Sie war erfüllt vom appetitanregenden Duft, der aus dem Ofen strömte, in dem bereits die Hühner herrlich vor sich hin brutzelten. Anne setzte die Kartoffeln auf, Diana die Erbsen und Bohnen. Dann bereitete Anne, deren Wangen bereits glühten, die Maissoße zu den Hühnern, hackte die Zwiebeln für die Suppe und schlug am Schluss die Sahne für die Zitronentörtchen, während Diana sich in die Speisekammer einschloss und den Salat fertig machte.
Und was war mit Davy? Hielt er sein Versprechen und war brav? Ja. Natürlich bestand er darauf, in der Küche zu bleiben, um seine Neugierde zu befriedigen und alles zu verfolgen. Da er ruhig in der Ecke saß und emsig damit beschäftigt war, die Knoten aus dem Fischnetz zu machen, das er von seinem letzten Ausflug ans Meer mitgebracht hatte, hatte niemand etwas dagegen.
Um halb zwölf war der Salat fertig, die goldgelben Törtchen waren mit Schlagsahne verziert, alles, was brutzeln und brodeln sollte, brutzelte und brodelte vor sich hin.
»Wir gehen uns jetzt besser umziehen«, sagte Anne. »Vielleicht kommen sie ja schon um zwölf. Punkt eins müssen wir zu Mittag essen, denn die Suppe muss, sobald sie fertig ist, sofort serviert werden.« Sie gingen in den Ostgiebel und zogen sich festlich an. Anne betrachtete besorgt ihre Nase und stellte hocherfreut fest, dass die Sommersprossen, entweder dank des Zitronensafts oder dank ihrer ungewöhnlich roten Wangen, überhaupt nicht auffielen. Als sie sich umgezogen hatte, sahen sie genauso adrett, schmuck und mädchenhaft aus wie »Mrs Morgans Heldinnen«.
»Hoffentlich bringe ich wenigstens ab und zu ein Wort über die Lippen und sitze nicht die ganze Zeit stumm da«, sagte Diana besorgt.
»Wo Mrs Morgans Heldinnen immer so gekonnt Konservation betreiben. Aber ich fürchte, ich bringe kein Wort heraus und sitze dämlich da. Und bestimmt sage ich wieder >verstehste<. Seit Miss Stacy hier unterrichtet hat, sage ich es nicht mehr ganz so oft. Aber wenn ich aufgeregt bin, platzt es mir bestimmt wieder heraus. Anne, wenn ich in Gegenwart von Mrs Morgan >verstehste< sage, schäme ich mich zu Tode. Es wäre fast noch schlimmer, als wenn ich keinen Ton sage.«
»Ich befürchte einiges«, sagte Anne, »aber ich habe keine Bange, dass ich kein Wort herausbringe.«
Anne verhüllte ihre Musselin-Pracht mit einer großen Schürze und ging nach unten, um die Suppe zuzubereiten. Marilla hatte sich und die Zwillinge umgezogen und sah aufgeregter aus, als man es je an ihr gesehen hatte. Um halb eins kamen die Allans und Miss Stacy. Alles verlief reibungslos, aber Anne wurde allmählich nervös. Es war längst an der Zeit, dass Priscilla und Mrs Morgan eintrafen. Sie ging des Öfteren an die Pforte und sah so gespannt den Weg hinunter, wie ihre Namensschwester in der Blaubart-Geschichte aus dem Turmfenster spähte.