»Angenommen, sie kommen überhaupt nicht?«, sagte sie kläglich. »Nimm es lieber nicht an. Es wäre ein Jammer«, sagte Diana, die langsam ungute Befürchtungen hegte.
»Anne«, sagte Marilla, die aus dem Wohnzimmer kam. »Miss Stacy möchte sich Miss Barrys Servierplatte ansehen.«
Anne eilte an den Wohnzimmerschrank, um sie zu holen. Wie sie es Mrs Lynde versprochen hatte, hatte sie an Miss Barry in Charlottetown geschrieben und sie gebeten, ihnen die Servierplatte auszuborgen. Miss Barry und Anne kannten sich seit langem und sie hatte die Servierplatte prompt hergeschickt zusammen mit einem Brief, in dem sie Anne dringend bat, gut darauf Acht zu geben, denn die Platte hätte 20 Dollar gekostet. Die Servierplatte hatte auf dem Hilfsbasar ihren Zweck erfüllt und war wieder auf Green Gables in den Schrank gestellt worden. Anne mochte sie niemand anvertrauen, der sie in die Stadt zurückbrachte.
Sie ging vorsichtig mit der Servierplatte zur Vordertür, wo die Gäste die kühle Brise genossen, die vom Meer herüberwehte. Die Platte wurde in Augenschein genommen und bewundert. Gerade hatte Anne sie wieder an sich genommen, da ertönte aus der Speisekammer ein grauenvolles Krachen und Klirren. Marilla, Diana und Anne rannten hin. Anne hielt nur kurz an, um die kostbare Servierplatte auf der zweiten Treppenstufe abzustellen.
Als sie bei der Speisekammer ankamen, bot sich ihren Augen ein wahrhaftig herzzerreißender Anblick: Davy kletterte schuldbewusst vom Tisch, das frische Baumwollhemd voller gelber Flecken. Auf dem Tisch lagen die zermantschten Überreste dessen, was einmal zwei ansehnliche Zitronentörtchen mit Sahne gewesen waren.
Davy hatte das Fischnetz entwirrt und es zu einem Ball aufgerollt. Dann war er in die Speisekammer gegangen und hatte es auf das Bord über dem Tisch legen wollen, wo er schon eine ganze Reihe ähnlicher Kugeln aufbewahrte, die, soweit das zu beurteilen war, außer dem reinen Vergnügen, sie zu besitzen, keinem nützlichen Zweck dienten. Davy musste, um daran zu kommen, auf den Tisch klettern und von einer gefährlichen Position aus auf das Regal langen - was Marilla ihm verboten hatte, weil er dabei schon einmal ziemlichen Schaden angerichtet hatte. Das Ergebnis diesmal war verheerend. Davy war ausgerutscht und mitten auf den Zitronentörtchen gelandet. Sein frisches Hemd war fürs Erste hinüber - die Zitronentörtchen waren ein für alle Mal hinüber. Was jedoch des einen Unglück, ist des ändern Glück; in dem Fall profitierte das Schwein von Davys Missgeschick.
»Davy Keith«, sagte Marilla und schüttelte ihn an den Schultern, »habe ich dir nicht verboten, auf den Tisch zu klettern? Hast du verstanden?«
»Ich hab’s vergessen«, wimmerte Davy. »Du hast mir so viele Sachen verboten, dass ich mir nicht immer alle merken kann.«
»Du gehst nach oben und bleibst dort bis nach dem Essen. Vielleicht ist es dir bis dahin wieder eingefallen. Nein, Anne, du brauchst gar nicht Fürsprache für ihn einzulegen. Ich bestrafe ihn nicht, weil er deine Kuchen ruiniert hat - das war ein Versehen. Ich bestrafe ihn, weil er ungehorsam war. Geh, Davy, jetzt gleich!«
»Bekomme ich nichts zu essen?«, jammerte Davy.
»Du kannst nach dem Essen herunterkommen und in der Küche essen.«
»In Ordnung«, sagte Davy ein wenig getröstet. »Anne hebt bestimmt ein paar schöne Hühnchenknochen für mich auf, nicht wahr, Anne? Weil du weißt, dass ich nicht absichtlich auf die Kuchen gefallen bin. Sag mal, Anne, jetzt wo sie sowieso hinüber sind, kann ich da nicht ein paar mit nach oben nehmen?«
»Nein, Davy«, sagte Marilla und schob ihn Richtung Flur.
»Was essen wir jetzt zum Nachtisch?«, fragte Anne und sah kummervoll auf die Überreste und die Verwüstung.
»Hol einen Topf von den eingemachten Erdbeeren«, sagte Marilla tröstend. »Da in der Schüssel ist noch genügend Schlagsahne.«
Es wurde ein Uhr, aber keine Spur von Priscilla und Mrs Morgan. Anne litt Qualen. Alles war gerade durchgebraten, die Suppe war genau so, wie eine Suppe sein sollte - aber nicht mehr lange.
»Ich glaube nicht, dass sie überhaupt noch kommen«, sagte Marilla ärgerlich.
Anne und Diana sahen einander trostsuchend an.
Um halb zwei tauchte Marilla wieder aus dem Wohnzimmer auf. »Mädchen, wir müssen jetzt essen. Alle haben Hunger, es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Priscilla und Mrs Morgan kommen nicht, das ist sicher. Warten nützt da auch nichts.«
Anne und Diana machten sich ohne jede Begeisterung daran, das Essen aufzutragen.
»Ich bringe keinen Bissen hinunter«, sagte Diana traurig.
»Ich auch nicht. Hoffentlich schmeckt es wenigstens Miss Stacy und den Allans«, sagte Anne lustlos.
Als Diana die Erbsen in die Schüssel gab, kostete sie sie und verzog das Gesicht.
»Anne, hast du Zucker an die Erbsen getan?«
»Ja«, sagte Anne und zerstampfte die Kartoffeln mit einer Miene wie jemand, der nur seine Pflicht erledigt. »Ich habe einen Löffel voll Zucker hineingetan. Wir geben immer Zucker hinzu. Magst du es nicht?«
»Ich habe auch einen Löffel voll hineingetan, als ich sie aufs Feuer setzte«, sagte Diana.
Anne ließ den Stampfer sinken und kostete ebenfalls. Dann zog sie eine Grimasse.
»Wie scheußlich! Nicht im Traum wäre ich darauf gekommen, dass du Zucker zugeben würdest, weil ich weiß, dass deine Mutter nie Zucker zugibt. Wie durch ein Wunder habe ich zufällig daran gedacht - ich vergesse es mit schöner Regelmäßigkeit -, also habe ich einen Löffel voll hineingetan.«
»Zu viele Köche . . .«, sagte Marilla, die der Unterhaltung ziemlich schuldbewusst gelauscht hatte. »Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass du an den Zucker denkst, Anne. Du hast noch nie Zucker hineingetan - also habe ich einen Löffel voll hineingegeben.«
Die Gäste im Wohnzimmer vernahmen aus der Küche ein ums andere Mal schallendes Gelächter, aber sie hatten keine Ahnung, was der Grund dafür war. Jedenfalls standen an dem Tag keine Erbsen auf dem Tisch.
»Na ja«, seufzte Anne und riss sich wieder zusammen, »wir haben ja den Salat und bei den Bohnen wird wohl auch nichts schief gelaufen sein. Tragen wir die Sachen auf und bringen es hinter uns.«
Man kann nicht behaupten, dass das Essen sehr gesellig verlief. Die Allans und Miss Stacy bemühten sich redlich die Situation zu retten. Marilla ließ sich nicht aus ihrer gewohnten Ruhe bringen. Aber Anne und Diana, hin und her gerissen zwischen Enttäuschung und Erschöpfung von den Aufregungen des Vormittags, konnten weder reden noch essen. Anne mühte sich und beteiligte sich den Gästen zuliebe hin und wieder am Gespräch. Doch im Augenblick war jeder Funke in ihr erloschen. Trotz aller Liebe zu den Allans und Miss Stacy musste sie unaufhörlich denken, wie schön es wäre, wenn sie alle nach Hause gingen und sie ihre Erschöpfung und Enttäuschung in den Kissen im Ostgiebel vergessen konnte.
Es gibt eine alte Redensart, die manchmal nur zu wahr ist: »Ein Unglück kommt selten allein.« Das Maß der Widerwärtigkeiten an diesem Tag war noch nicht voll. Gerade als Mr Allan das Tischgebet beendete, ertönte auf der Treppe ein merkwürdiges, unheilverkündendes Geräusch, so als würde ein harter schwerer Gegenstand von Stufe zu Stufe poltern. Mit einem gewaltigen Krach landete es auf dem Boden. Alle rannten hinaus auf den Flur. Anne schrie entsetzt auf.
Am Fuße der Treppe lag zwischen Scherben, die einmal Miss Barrys Servierplatte gewesen waren, eine große rosa Muschel. Oben an der Treppe kniete der erschrockene Davy und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Verwüstung.