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»Davy«, sagte Marilla drohend, »hast du die Muschel mit Absicht hinuntergeworfen?«

»Nein, ehrlich nicht«, wimmerte Davy. »Ich hab nur ganz still hier gekniet, um euch durch das Geländer zu beobachten. Da bin ich mit dem Fuß gegen dieses alte Ding gestoßen und es ist heruntergefallen. Ich hab einen Bärenhunger. Und lieber bekäme ich eine Tracht Prügel und damit basta, statt immer nach oben geschickt zu werden, wo ich alles verpasse!«

»Schimpf nicht mit Davy«, sagte Anne und sammelte mit zitternden Fingern die Scherben auf. »Es war mein Fehler. Ich habe die Platte dort abgestellt und ganz vergessen. Das ist die verdiente Strafe für meine Nachlässigkeit. Aber, oje, was wird Miss Barry sagen?«

»Sie hat sie sich gekauft, also ist es nicht so schlimm, als wenn es ein Erbstück wäre«, versuchte Diana sie zu trösten.

Bald darauf gingen die Gäste in dem Gefühl, dass das am taktvollsten war. Anne und Diana spülten das Geschirr, wobei sie weniger denn je sprachen. Dann machte sich Diana gemartert auf den Heimweg. Anne ging gemartert in den Ostgiebel. Sie blieb dort so lange, bis Marilla bei Sonnenuntergang mit einem Brief von Priscilla, den sie tags zuvor geschrieben hatte, vom Postamt nach Hause kam. Mrs Morgan hatte sich so schlimm den Fuß verstaucht, dass sie keinen Schritt aus ihrem Zimmer tun konnte.

»Anne, Liebes«, schrieb Priscilla, »es tut mir so Leid, aber wir können diesmal nicht nach Green Gables kommen. Bis Tantchens Fuß wieder in Ordnung ist, muss sie zurück nach Toronto. Sie muss bis zu einem bestimmten Datum wieder dort sein.«

»Tja«, seufzte Anne und legte den Brief auf die rote Steinstufe der hinteren Veranda, auf der sie saß, und sah in die Abenddämmerung. »Ich habe gleich gedacht, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn Mrs Morgan tatsächlich kommen würde. Na . .. das klingt so pessimistisch wie Miss Eliza Andrews. Ich schäme mich dafür. Es war nicht zu schön, um wahr zu sein, schließlich werden bei mir dauernd ebenso schöne und noch viel schönere Dinge wahr. Die Sache hat auch ihre lustige Seite. Vielleicht können Diana und ich darüber lachen, wenn wir alt und grau sind. Aber früher werde ich nicht darüber lachen können, denn es war eine wirklich bittere Enttäuschung.«

»Du wirst vermutlich noch viel mehr und viel schlimmere Enttäuschungen erleben«, sagte Manila, die aufrichtig glaubte, dass Anne das trösten würde. »Mir scheint, Anne, dass du noch immer dein Herz viel zu sehr an etwas hängst und vor Verzweiflung am Boden zerstört bist, wenn es nicht in Erfüllung geht.«

»Ich weiß«, stimmte Anne traurig zu. »Wenn etwas Schönes ins Haus steht, fliege ich regelrecht darauf. Als Erstes stelle ich dann fest, dass ich - Rums! - wieder auf dem Boden lande. Aber, Manila, das Fliegen an sich ist einfach herrlich - so als segelte man durch den Sonnenuntergang. Es entschädigt einen fast für den Fall.«

»Hm, vielleicht«, gab Marilla zu. »Ich bleibe lieber auf dem Boden und verzichte sowohl aufs Fliegen als auch auf den Fall. Aber jeder macht es auf seine Weise. Früher dachte ich, es gäbe nur einen richtigen Weg, doch seit ich dich und die Zwillinge aufziehe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Was willst du wegen Miss Barrys Servierplatte unternehmen?«

»Ihr die zwanzig Dollar geben, die sie dafür bezahlt hat, denke ich. Ich bin heilfroh, dass es kein kostbares Erbstück war, dann könnte kein Geld der Welt sie ersetzen.«

»Vielleicht findest du eine, die gleich aussieht, und kannst sie ihr besorgen.«

»Ich furchte, nein. Solche alten Servierplatten gibt es nur noch sehr wenige. Mrs Lynde konnte schon für das Abendessen nirgends eine auftreiben. Ich wollte, ich fände eine, denn Miss Barry wäre jede recht, Hauptsache sie ist genauso alt und echt. Marilla, sieh dir nur den großen Stern über Mr Harrisons Ahornwäldchen an und die heilige Stille des silbrigen Himmels drum herum. Das ist wie ein Gebet. Solange man Sterne und einen Himmel wie diesen betrachten kann, da können einem kleine Enttäuschungen und Missgeschicke gar nicht so viel ausmachen, nicht wahr?«

»Wo steckt Davy?«, fragte Marilla und sah gleichgültig auf den Stern. »Im Bett. Ich habe Dora und ihm versprochen, sie morgen zu einem Picknick ans Meer mitzunehmen. Natürlich hatten wir ursprünglich ausgemacht, dass er brav sein muss. Aber er hat es nicht mit Absicht getan. Ich habe es nicht übers Herz gebracht ihn zu enttäuschen.«

»Ihr werdet noch ertrinken - im Boot übers Meer zu rudern«, brummte Marilla. »Ich lebe seit zwanzig Jahren hier und bin noch nicht ein einziges Mal auf dem Meer gerudert.«

»Dazu ist es nie zu spät«, sagte Anne verschmitzt. »Wie wäre es, wenn du morgen mitkämst? Wir schließen Green Gables ab, verbringen den ganzen Tag am Meer und vergessen die Welt.«

»Nein, danke«, sagte Marilla betont entrüstet. »Ich würde einen netten Anblick bieten, nicht wahr, wie ich in einem Boot übers Meer rudere! Ich höre Rachel schon. Da fährt Mr Harrison. Meinst du, an dem Gerede ist etwas daran, Mr Harrison wolle Isabella Andrews heiraten?«

»Nein, bestimmt nicht. Er war nur einmal abends in einer geschäftlichen Angelegenheit bei Harmon Andrews. Mrs Lynde hat ihn gesehen und gesagt, bestimmt würde er ihr den Hof machen, weil er ein weißes Hemd anhatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr Harrison je heiraten wird. Er scheint etwas gegen das Heiraten zu haben.«

»Na ja, bei diesen alten Junggesellen weiß man nie. Aber wenn es stimmt, gebe ich Rachel Recht, dass das verdächtig ist, denn vorher hat man ihn noch nie in einem weißen Hemd gesehen.«

»Das hat er bestimmt nur angezogen, weil er mit Harmon Andrews ein Geschäft abschließen wollte«, sagte Anne. »Er hat einmal gesagt, das wäre der einzige Anlass für einen Mann, besonderen Wert auf sein Äußeres zu legen, weil, wenn man wohlhabend aussieht, würde die Gegenpartei einen nicht so schnell übers Ohr zu hauen versuchen. Mr Harrison tut mir richtig Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit seinem Leben zufrieden ist. Er muss sich sehr einsam fühlen, wo er niemanden hat, um den er sich kümmern muss, außer dem Papagei, meinst du nicht auch? Aber Mr Harrison mag nicht bemitleidet werden. Das mag niemand, könnte ich mir vorstellen.«

»Da kommt Gilbert den Weg hoch«, sagte Manila. »Falls ihr vorhabt, eine Bootsfahrt zu machen, denk daran, Mantel und Gummistiefel anzuziehen. Es ist sehr frisch heute Abend.«

18 - Das Erlebnis in der Tory-Straße

»Anne«, sagte Davy, richtete sich im Bett auf und stützte das Kinn in die Hände. »Anne, wo ist der Schlaf? Jeden Abend legen die Leute sich schlafen. Natürlich weiß ich, dass der Schlaf da ist, wo sich meine Träume abspielen. Aber ich will wissen, wo das ist und wie man dahin und wieder zurückkommt, ohne dass man etwas davon merkt. Und die Nacht - wohin verschwindet die?«

Anne kniete am Fenster im Westgiebel und betrachtete den Sonnenuntergang, der wie ein großer Krokus aussah, mit einem Blütenkranz und in der Mitte ein feuriges Gelb. Bei Davys Frage wandte sie den Kopf und sagte verträumt:

Ȇber den Bergen des Mondes,

Im Tale des Schattens.«

Paul Irving hätte den Sinn verstanden oder, wenn nicht, sich selbst einen Reim darauf gemacht. Aber der praktisch denkende Davy, der, wie Anne oft verzweifelt feststellte, nicht ein Fünkchen Phantasie besaß, war nur verwirrt und verärgert.

»Anne, eben redest du Unsinn.«

»Natürlich, mein Lieber. Weißt du nicht, dass nur die Dummen dauernd etwas sagen, das einen Sinn ergibt?«

»Also ich finde, du könntest auf eine vernünftige Frage auch eine vernünftige Antwort geben«, sagte Davy beleidigt.

»Ach, um das zu verstehen, bist du noch zu klein«, sagte Anne. Aber sie schämte sich, dass sie das gesagt hatte. Denn hatte sie nicht, in bitterer Erinnerung an ähnliche schroffe Abfertigungen in ihrer eigenen Kindheit, feierlich geschworen, nie wieder zu einem Kind zu sagen, es sei noch zu klein, um es zu verstehen? Und doch sagte sie es - so weit klaffen Theorie und Praxis manchmal auseinander. »Naja, ich tue mein Bestes, um größer zu werden«, sagte Davy, »aber das kann man nicht beschleunigen. Wäre Marilla nicht so geizig mit ihrem Kompott, würde ich bestimmt schneller wachsen.«