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»Marilla ist nicht geizig, Davy«, sagte Anne streng. »Du bist undankbar, so was zu sagen.«

»Es gibt ein anderes Wort, das dasselbe bedeutet und viel besser klingt, aber es fällt mir jetzt nicht ein«, sagte Davy und runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn. »Marilla hat es neulich selbst von sich gesagt.«

»Wenn du haushälterisch meinst, das ist etwas ganz anderes als geizig. Haushalten ist eine gute Eigenschaft. Wäre Marilla geizig, hätte sie Dora und dich nicht aufgenommen, als eure Mutter starb. Hättest du bei Mrs Wiggins leben wollen?«

»Jetzt bitte ich dich aber, nein!«, sagte Davy mit Nachdruck. »Und zu Onkel Richard will ich auch nicht. Ich bleibe viel lieber hier, auch wenn Marilla dieses langschwänzige Wort ist, wenn es sich um Kompott dreht. Weil du hier bist, Anne. Sag mal, Anne, willst du mir nicht vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählen? Aber kein Märchen. Für Mädchen mögen sie sich ja eignen, aber ich mag lieber aufregende Geschichten - wo viel mit Morden und Schießen drin vorkommt, ein brennendes Haus und mehr so interessante Sachen.«

Zu Annes Glück rief ihr in dem Augenblick Marilla von ihrem Zimmer aus zu: »Anne, Diana gibt ganz schnell hintereinander Zeichen. Du siehst am besten nach, was sie will.«

Anne lief in den Ostgiebel und sah durch das Dämmerlicht, wie Diana von ihrem Fenster aus jeweils fünfmal hintereinander Lichtzeichen gab. Nach ihrem alten Code bedeutete das: »Komm sofort her. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.« Anne schlang sich das weiße Tuch um den Kopf und rannte durch den Geisterwald und über Mr Beils Weide nach Orchard Sloap.

»Ich habe gute Nachrichten für dich, Anne«, sagte Diana. »Meine Mutter und ich sind gerade aus Carmody zurückgekommen, ln Mr Blairs Laden habe ich Mary Sentner aus Spencervale getroffen. Sie sagt, dass die Copp-Fräuleins an der Tory-Straße eine Servierplatte haben, die genauso aussieht wie die beim Abendessen. Sie meinte, sie würden sie bestimmt verkaufen, weil Martha Copp noch nie etwas behalten hat, das sie verscherbeln konnte. Sollten sie sie aber nicht verkaufen, dann gibt es eine bei Wesley Keyson in Spencervale, von der sie mit Sicherheit weiß, dass sie sie verkaufen. Sie kann nur nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es genau die gleiche wie Tante Josephines ist.«

»Ich gehe gleich morgen nach Spencervale«, sagte Anne entschieden. »Du musst mitkommen. Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, denn übermorgen muss ich zu ihr in die Stadt und wie stehe ich vor deiner Tante Josephine da ohne eine Servierplatte? Es wäre noch schlimmer als damals, als ich zugeben musste, dass ich auf dem Gästezimmerbett herumgehüpft war.«

Bei der Erinnerung daran lachten beide - dazu jedoch, muss ich, falls einer meiner Leser es nicht weiß und es wissen will, auf die frühere Geschichte um Anne verweisen.

Am nächsten Tag machten sich die beiden auf die Servierplatten-Expedition. Nach Spencervale waren es zehn Meilen. Es war kein besonders angenehmer Tag zum Reisen. Es war heiß und windstill und auf den Straßen lag so viel Staub, wie es nach sechs Wochen ohne Regen zu erwarten stand.

»Wenn es nur bald Regen geben würde«, seufzte Anne. »Alles ist ganz verdorrt. Ich habe direkt Mitleid mit den armen Feldern und die Bäume scheinen fröhlich ihre Hände auszustrecken und um Regen zu flehen. Was meinen Garten angeht, es tut mir jedes Mal weh, wenn ich ihn mir ansehe. Aber ich sollte wohl nicht um meinen Garten jammern, wo das Getreide der Farmer so unter der Hitze zu leiden hat. Mr Harrison sagt, seine Weiden sind so versengt, dass die armen Kühe kaum noch etwas zu fressen finden. Die Tiere tun ihm richtig Leid.«

Nach einer ziemlich ermüdenden Fahrt erreichten die Mädchen Spencervale und bogen in die Tory-Straße ein — ein einsamer Weg, wo der Grasstreifen zwischen den Rädern anzeigte, dass er nur wenig befahren war. Der längste Teil des Weges war von dichten jungen Fichten bestanden, die sich bis auf den Fahrweg vorschoben. Hier und da war eine Lichtung, wo das Feld einer Spencervale-Farm bis an einen Zaun heranreichte oder eine ausgedehnte Fläche mit Bäumen zu sehen war, an denen in voller Blüte stehendes Kreuzkraut und duftende Goldruten prankten.

»Warum heißt die Straße Tory-Straße?«, fragte Anne.

»Mr Allan sagt, dass man einen Platz grundsätzlich deshalb >Wäldchen< nennt, weil nicht ein Baum darauf steht«, sagte Diana. »Entlang dieser Straße wohnt außer den Copp-Fräuleins und dem alten Martin Bovyer am anderen Ende nicht ein Liberaler. Die Tory-Regierung hat die Straße durchgesetzt, als sie an der Macht war, nur um zu zeigen, dass sie etwas auf die Beine stellt.«

Dianas Vater war ein Liberaler, weshalb sie und Anne auch nie über Politik sprachen. Die Bewohner von Green Gables waren von alters her Konservative.

Schließlich kamen sie zu dem alten Copp’schen Gehöft, einem so makellos sauberen Anwesen, dass selbst Green Gables im Vergleich dazu schlecht abgeschnitten hätte. Das altmodische Haus stand an einem Hang, weshalb man es an einem Ende hatte unterkellern müssen. Das Haus und die Nebengebäude waren allesamt makellos weiß gestrichen. In dem pieksauberen Küchengarten mit seiner weißen Umzäunung stand nicht ein Stängelchen Unkraut.

»Alle Läden sind geschlossen«, sagte Diana niedergeschlagen. »Da ist bestimmt niemand zu Hause.«

Dianas Befürchtung erwies sich als richtig. Die Mädchen sahen einander perplex an.

»Jetzt bin ich ratlos«, sagte Anne. »Wenn ich sicher wäre, dass es die richtige Platte ist, würde ich warten, bis sie nach Hause kommen. Wenn es aber nicht die richtige ist, dann ist es vielleicht zu spät, um hinterher noch zu Wesley Keyson zu gehen.«

Diana sah auf ein kleines quadratisches Fenster oberhalb des Kellergeschosses.

»Das ist das Speisekammerfenster, da bin ich mir sicher«, sagte sie. »Dies Haus ist genauso wie das von Onkel Charles in Newbridge und das ist das Speisekammerfenster. Der Laden ist nicht geschlossen. Wenn wir also auf das Dach des kleinen Hauses klettern würden, könnten wir einen Blick in die Speisekammer werfen und vielleicht die Servierplatte sehen. Meinst du, das wäre schlimm?«

»Nein, das glaube ich nicht«, entschied Anne nach reiflicher Überlegung. »Wir tun es ja nicht aus bloßer Neugier.«

Nachdem dieser wichtige ethische Grundsatz geklärt war, machte Anne sich bereit, das besagte »kleine Haus« hinaufzuklettern. Es war aus Latten gezimmert, hatte ein spitz zulaufendes Dach und hatte früher als Entenstall gedient. Die Copp-Fräuleins hielten keine Enten mehr-»weil Enten furchtbar viel Dreck machen«. Seit einigen Jahren war es nicht mehr in Gebrauch, außer als Unterkunft für Hühner, die dort ihre Gelege hatten. Es war zwar tadellos weiß gestrichen, aber es schwankte ziemlich. Anne spürte unsicheren Boden unter den Füßen, als sie von einem günstigen Punkt aus, einem Fass auf einer Kiste, hinaufkletterte.

»Ich fürchte, es hält mein Gewicht nicht«, sagte sie, als sie vorsichtig auf das Dach stieg.

»Lehn dich aufs Fensterbrett«, empfahl Diana. Anne folgte dem Rat.

Zu ihrer großen Freude entdeckte sie, als sie durch die Scheibe spähte, auf einem Regal am Fenster eine Servierplatte, genau so eine, wie sie suchte - da brach die Katastrophe herein. Vor lauter Freude achtete Anne nicht auf den wackligen Stand unter den Füßen, lehnte sich unvorsichtigerweise nicht auf das Fensterbrett und machte vor Wonne aufgeregt einen kleinen Hopser - und im nächsten Augenblick war sie bis zu den Achselhöhlen durch das Dach gekracht. Da hing sie, außer Stande, sich selbst zu befreien. Diana stürzte in den Entenstall, packte ihre unglückliche Freundin an der Taille und versuchte sie herunterzuziehen.