»Au . . . nicht! Die Splitter!!«, schrie die arme Anne vor Schmerzen. »Die bohren sich durchs Kleid. Sieh nach und stelle etwas unter meine Füße. Vielleicht kann ich mich dann selbst hochziehen.«
Diana zog schnell das besagte Fass herein. Anne stellte fest, dass es gerade eben hoch genug war, dass sie festen Halt unter den Füßen hatte.
»Kann ich dich herausziehen, wenn ich darauf steige?«, schlug Diana vor.
Anne schüttelte hoffnungslos den Kopf.
»Nein, die Splitter tun zu weh. Aber wenn du eine Axt findest, kannst du mich vielleicht herausschlagen. Oh, Diana, ich glaube langsam wirklich, dass ich unter einem schlechten Stern geboren wurde.« Diana suchte gewissenhaft, aber es ließ sich keine Axt auftreiben. »Ich muss Hilfe holen«, sagte sie, als sie zu der Gefangenen zurückkehrte.
»Nein, das tust du nicht«, sagte Anne heftig. »Dann erfährt alle Welt die Geschichte und ich kann mich nirgends mehr blicken lassen. Nein, wir müssen warten, bis die Copp-Fräuleins nach Hause kommen und sie zur Verschwiegenheit verpflichten. Sie wissen, wo die Axt ist, und werden mich befreien. Solange ich mich nicht rühre, ist es gar nicht so schlimm ... tut es nicht so schlimm weh, meine ich. Auf wie viel die Copp-Fräuleins dies Haus wohl schätzen. Ich werde für den Schaden aufkommen müssen. Aber das macht mir nichts aus, wenn ich nur sicher wäre, dass sie Verständnis dafür haben, dass ich in ihr Speisekammerfenster gelugt habe. Mein einziger Trost ist, dass die Servierplatte genau die Sorte ist, die ich suche. Wenn Miss Copp sie mir verkauft, finde ich mich mit dem anderen schon ab.«
»Was, wenn die Copp-Fräuleins erst heute Abend zurückkommen .. . oder morgen?«, fragte Diana.
»Wenn sie bis Anbruch der Dunkelheit nicht zurück sind, musst du wohl jemand anderes zur Hilfe holen«, sagte Anne widerstrebend. »Aber erst, wenn uns nichts anderes übrigbleibt. Oh, ist das eine missliche Lage. Mir würden meine Missgeschicke nicht so viel ausmachen, wenn sie romantisch wären oder so wie bei Mrs Morgans Heldinnen, aber sie sind einfach nur lächerlich. Stell dir vor, was die Copp-Fräuleins sagen werden, wenn sie in den Hof fahren und einen Mädchenkopf aus dem Dach ihres Schuppens ragen sehen. Horch mal... ist das nicht eine Kutsche? Nein, Diana, es ist Donner.« Ohne jeden Zweifel, es war Donner. Diana ging schnell einmal ums Haus, kam wieder und verkündete, dass von Nordwesten her sehr schnell eine tiefschwarze Wolke herankam.
»Ich glaube, es gibt einen heftigen Gewitterschauer«, rief sie entsetzt. »Oh, Anne, was sollen wir tun?«
»Wir müssen Vorbereitungen treffen«, sagte Anne ruhig. Im Vergleich zu dem, was bereits geschehen war, schien ein Gewitterschauer eine Lappalie. »Pferd und Wagen stellst du am besten in den offenen Schuppen. Ein Glück, in der Kutsche liegt mein Sonnenschirm. Hier, nimm meinen Hut. Marilla hat gesagt, ich wäre ein Esel, für den Besuch in der Tory-Straße meinen besten Hut aufzusetzen. Und wie immer hatte sie Recht.«
Diana band das Pferd los und fuhr genau in dem Augenblick in den Schuppen, als die ersten dicken Tropfen fielen. Da saß sie nun und betrachtete den einsetzenden heftigen Regenguss, durch den hindurch sie Anne kaum sehen konnte, die sich tapfer den Sonnenschirm über den Kopf hielt. Es war nur ein kurzes Gewitter, aber fast eine Stunde lang regnete es munter vor sich hin. Gelegentlich hielt Anne den Sonnenschirm schräg und winkte ihrer Freundin aufmunternd zu. Aber eine Unterhaltung war bei der Entfernung und unter den Umständen unmöglich. Endlich hörte es auf zu regnen, die Sonne kam zum Vorschein. Diana wagte sich über die Pfützen auf dem Hof.
»Bist du sehr nass geworden?«, fragte sie besorgt.
»1 wo«, erwiderte Anne fröhlich. »Kopf und Schultern sind halbwegs trocken und mein Kleid ist nur an den Stellen etwas nass, wo der Regen durch die Latten getropft ist. Du brauchst mich nicht zu bemitleiden. Diana, mir hat es überhaupt nichts ausgemacht. Ich habe die ganze Zeit über daran gedacht, wie gut der Regen tut und wie mein Garten sich darüber freut. Ich habe mir vorgestellt, was die Blumen wohl gedacht haben, als die ersten Tropfen fielen. Ich habe mir eine höchst interessante Unterhaltung zwischen den Astern, den Wicken, den wilden Kanarienvögeln im Fliederbusch und den Geisterwächtern des Gartens ausgemalt. Zu Hause will ich es gleich aufschreiben. Hätte ich nur jetzt Stift und Papier zur Hand, weil ich die schönsten Passagen bestimmt wieder vergessen habe, bis ich zu Hause ankomme.«
Diana, gewissenhaft wie sie war, hatte einen Stift dabei und entdeckte im Wagenkasten ein Stück Packpapier. Anne klappte den tropfenden Sonnenschirm zusammen, setzte ihren Hut auf, breitete das Papier auf einem Dachziegel aus, den Diana ihr hochreichte, und schrieb ihr idyllisches Gartengedicht auf, unter Bedingungen, die kaum als der Literatur förderlich zu bezeichnen waren. Nichtsdestotrotz war das Ergebnis durchaus hübsch. Diana war »entzückt«, als Anne es ihr vorlas.
»Oh, Anne, es ist hübsch, einfach hübsch. Du musst es unbedingt an die Kanadische Frau schicken.«
Anne schüttelte den Kopf.
»O nein, es würde sich ganz und gar nicht eignen. Es enthält keine Handlung. Es ist nur eine Aneinanderreihung von Gedanken. Ich schreibe gern so etwas, aber es eignet sich natürlich nicht, um es zu veröffentlichen. Verleger wollen eine Handlung, das sagte Priscilla jedenfalls. Oh, da ist Miss Sarah Copp. Bitte, Diana, geh hin und erkläre es ihr.«
Miss Sarah Copp war klein von Statur, trug abgetragene schwarze Kleider und einen Hut, den sie weniger der eitlen Zier als der Qualität wegen ausgesucht hatte. Sie sah erwartungsgemäß sehr verwundert drein, als sie den seltsamen Anblick auf dem Hof gewahrte. Aber nachdem Diana ihr alles erklärt hatte, zeigte sie volles Verständnis. Schnell schloss sie die hintere Tür auf, brachte eine Axt zum Vorschein und befreite Anne mit ein paar gekonnten Hieben. Anne, ziemlich erschöpft und steif, tauchte in das Innere ihres Gefängnisses hinab und sah sich noch einmal dankbar in die Freiheit entkommen. »Miss Copp«, sagte sie ernst, »ich schwöre, ich habe nur deshalb einen Blick in Ihre Speisekammer geworfen, um zu sehen, ob Sie eine Servierplatte haben. Sonst habe ich nichts gesehen - nach etwas anderem habe ich überhaupt nicht Ausschau gehalten.«
»Oh, ist schon in Ordnung«, sagte Miss Sarah liebenswürdig. »Mach dir keine Gedanken - es ist ja weiter kein Schaden angerichtet worden. Gott sei Dank können wir Copps unsere Speisekammer jederzeit und jedem vorzeigen. Und was diesen alten Entenstall betrifft, bin ich froh, dass er eingekracht ist. Jetzt hat Martha vielleicht nichts mehr dagegen, ihn abzureißen. Vorher wäre sie nie und nimmer damit einverstanden gewesen aus Angst, er käme uns vielleicht irgendwann einmal noch zustatten, jedes Frühjahr musste ich ihn streichen. Aber man kann genauso gut mit einem Pfahl streiten wie mit Martha. Sie ist in der Stadt, ich habe sie zum Bahnhof gefahren. Du willst also meine Servierplatte kaufen. Hm, wieviel willst du denn dafür geben?«
»Zwanzig Dollar«, sagte Anne, die es in puncto Geschäftstüchtigkeit nicht mit einer Copp aufnehmen konnte, sonst hätte sie nicht gleich ihren Preis genannt.
»Nun, mal sehen«, sagte Miss Sarah vorsichtig. »Die Servierplatte gehört zum Glück mir, sonst hätte ich mich nie und nimmer getraut sie zu verkaufen, wenn Martha nicht hier ist. So wie die Dinge liegen, hätte sie ein Riesentheater veranstaltet. Martha ist hier der Herr im Hause, das kann ich euch sagen. Ich bin es leid, unter ihrer Fuchtel zu stehen. Aber kommt herein, kommt herein. Ihr müsst sehr müde und hungrig sein. Ich kann euch einen guten Tee kochen, aber ansonsten kann ich euch nur ein paar Butterbrote und Gurken anbieten. Martha hat den Kuchen, den Käse und das Kompott weggeschlossen, bevor sie fortging. Das tut sie immer, weil ich angeblich zu verschwenderisch damit bin, wenn Besuch kommt.«