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»Ziemlich jung«, stimmte Anne zu.

»Wo wir gerade vom Heiraten sprechen, das erinnert mich an etwas, was mich neulich beschäftigt hat«, fuhr Paul fort. »Mrs Lynde hat irgendwann letzte Woche Großmutter zum Tee besucht. Großmutter wollte, dass ich ihr ein Bild von meiner Mutter zeige - das, welches mein Vater mir zum Geburtstag geschickt hat. Eigentlich wollte ich es Mrs Lynde nicht zeigen. Mrs Lynde ist eine gute und nette Frau, aber sie gehört nicht zu den Menschen, denen man das Bild seiner Mutter zeigen möchte. Sie verstehen schon. Natürlich habe ich Großmutter gehorcht. Mrs Lynde sagte, meine Mutter sähe sehr hübsch aus, aber auch etwas aufgedonnert, und dass sie ein ganzes Stück jünger gewesen sein müsste als mein Vater'. Dann sagte sie noch: irgendwann wird dein Vater sicher wieder heiraten. Was hältst du von einer Stiefmutter, Paul?< Allein bei der Vorstellung blieb mir fast die Luft weg. Aber das habe ich mir Mrs Lynde gegenüber nicht anmerken lassen. Ich habe ihr offen ins Gesicht gesehen — genau so — und gesagt: >Mrs. Lynde, mein Vater hat es ganz ordentlich gemacht, als er meine Mutter ausgesucht hat. Ich vertraue ihm, dass er auch beim zweiten Mai eine ebenso gute Wahl trifft.< Ich kann ihm vertrauen, Miss Shirley. Aber trotzdem, falls ich je eine Stiefmutter bekomme, hoffe ich, dass er mich rechtzeitig um meine Meinung fragt. Da kommt Mary Joe, um uns zum Tee zu rufen. Ich gehe hin und befrage sie wegen des Butterkuchens.«

Das Ergebnis der »Befragung« war, dass Mary Joe den Kuchen aufschnitt und noch einen Teller mit Kompott dazustellte. Anne goss Tee ein. Die beiden hielten fröhlich Mahlzeit in dem dunklen alten Wohnzimmer, in dem die Fenster offen standen und Meerwind hereinwehte. Sie redeten so viel »Unsinn«, dass Mary Joe ganz schockiert war und am nächsten Abend Veronica erzählte, die Lehrerin sei genauso merkwürdig wie Paul. Nach dem Tee nahm Paul Anne mit in sein Zimmer, um ihr das Bild von seiner Mutter zu zeigen, das geheimnisvolle Geburtstagsgeschenk, das Mrs Irving im Bücherschrank aufbewahrt hatte. Pauls kleines niedriges Zimmer war erfüllt vom rötlichen Licht der Sonne, die über dem Meer unterging, und von tanzenden Schatten von den Tannen, die dicht neben dem viereckigen tief liegenden Fenster standen. In diesem sanften Schein und Zauber erstrahlte ein schönes Mädchengesicht mit zärtlichen mütterlichen Augen auf einem Bild an der Wand über dem Fußende des Bettes.

»Das ist meine Mutter«, sagte Paul liebevoll und stolz. »Ich habe Großmutter gebeten, es so aufzuhängen, dass ich es gleich morgens beim Aufwachen sehe. Jetzt macht es mir nichts mehr aus, dass ich abends beim Zubettgehen keine Kerze habe, weil es mir vorkommt, als wäre meine Mutter hier bei mir. Vater wusste, was ich mir zum Geburtstags wünschte, obwohl er mich nie gefragt hat. Ist es nicht toll, was Väter ahnen?«

»Deine Mutter war hübsch, Paul. Du hast Ähnlichkeit mit ihr. Aber ihre Augen und Haare sind dunkler als deine.«

»Ich habe dieselbe Augenfarbe wie mein Vater«, sagte Paul, stürmte durchs Zimmer und legte sämtliche Kissen auf einen Haufen unterhalb des Fensters. »Aber mein Vater hat graue Haare. Er hat dichtes Haar, aber er ist grau. Er ist fast fünfzig, müssen Sie wissen. Das ist ein reifes Alter, nicht wahr? Aber er ist nur äußerlich alt. Innerlich ist er jung wie nur was. So, Miss Shirley, bitte setzen Sie sich hierhin. Ich setze mich zu Ihren Füßen. Darf ich den Kopf an Ihr Knie lehnen? So haben meine Mutter und ich immer dagesessen. Ah, so ist es schön.«

»Jetzt würde ich gern die Geschichte hören, die Mary Joe so merkwürdig fand«, sagte Anne und streichelte Pauls Lockenkopf. Paul musste nie dazu überredet werden, seine Gedanken mitzuteilen - jedenfalls nicht von einer verwandten Seele.

»Ich habe mir die Geschichte eines Abends im Tannenwäldchen ausgedacht«, sagte er verträumt. »Natürlich habe ich sie nicht geglaubt, aber ausgemalt habe ich sie mir. Sie verstehen schon. Ich wollte sie jemandem erzählen, aber niemand war da, außer Mary Joe. Mary Joe war in der Speisekammer und backte Brot. Ich habe mich auf die Bank gesetzt und gesagt: >Mary Joe, weißt du, was ich denke? Ich denke, der Abendstern ist ein Leuchtturm im Land, in dem die Feen wohnen.< Mary Joe sagte: >Du bist merkwürdig. Es gibt keine Feen.< Ich war ganz ärgerlich. Sicher wusste ich, dass es keine Feen gibt, aber deswegen kann ich mir doch vorstellen, es gäbe sie. Sie verstehen schon. Geduldig versuchte ich es noch einmal. >Also, Mary Joe, weißt du, was ich denke? Ich denke, dass nach Sonnenuntergang ein Engel über die Erde geht - ein riesengroßer weißer Engel mit silbrigen zusammengefalteten Flügeln - und die Blumen und Vögel in den Schlaf singt. Kinder können ihn hören, wenn sie es nur verstehen, ihm zu lauschen.< Da hob Mary Joe die ganz mit Mehl bedeckten Hände und sagte: >Hm, du bist ein seltsamer Junge. Du machst mir Angst.< Sie sah wirklich ganz verängstigt aus. Ich ging hinaus und erzählte flüsternd alle meine Gedanken dem Garten. Im Garten stand eine kleine absterbende Birke. Großmutter sagt, es käme von der salzigen Gischt. Aber ich glaube, die Dryade, die darin wohnte, war so dumm, ging hinaus in die Welt und verschwand. Der kleine Baum war so einsam, dass er an gebrochenem Herzen starb.«

»Und wenn die dumme kleine Dryade die Welt satt hat und zu ihrem Baum zurückkommt, wird es ihr das Herz brechen«, sagte Anne.

»Ja, aber wenn Dryaden so dumm sind, müssen sie auch mit den Folgen leben, so wie die Menschen«, sagte Paul ernst. »Wissen Sie, was ich über den Neumond denke? Ich denke, er ist ein goldenes Boot voller Träume.«

»Und wenn er eine Wolke berührt, werden ein paar Träume verschüttet und fallen in deinen Schlaf.«

»Genau! Oh, Sie verstehen das. Und Veilchen sind kleine Schnipsel vom Himmel, die heruntergefallen sind, als die Engel Löcher hineinschnitten, durch die hindurch die Sterne leuchten. Und Butterblumen bestehen aus altem Sonnenschein. Und Erbsen verwandeln sich im Himmel zu Schmetterlingen. Nun, finden Sie meine Einfälle merkwürdig?«

»Nein, mein Kleiner, sie sind überhaupt nicht merkwürdig. Sie sind ungewöhnlich und schön für einen kleinen jungen. Also halten Leute, denen selbst nie so etwas einfallen könnte, und wenn sie es hundertjahre lang versuchten, sie für merkwürdig. Aber lass dich nicht davon abbringen, Paul, eines Tages wirst du bestimmt noch ein Dichter.«

Als Anne zu Hause ankam, wartete ein völlig anders gearteter Junge darauf, ins Bett gebracht zu werden. Davy schmollte. Als Anne ihn ausgezogen hatte, sprang er ins Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.

»Davy, du hast vergessen zu beten«, wies Anne ihn zurecht.

»Nein, hab ich nicht vergessen«, sagte Davy trotzig, »ich bete nicht mehr. Ich strenge mich auch nicht mehr an, brav zu sein, weil du Paul Irving sowieso lieber magst, egal wie brav ich bin. Also kann ich mich genauso gut schlecht benehmen und hab wenigstens meinen Spaß.«

»Ich mag Paul Irving nicht lieber«, sagte Anne ernst. »Ich habe dich genauso gern, nur auf eine andere Art.«

»Aber ich will, dass du mich auf dieselbe Art gern hast«, sagte Davy schmollend.

»Man kann verschiedene Menschen nicht auf dieselbe Art mögen. Du hast Dora und mich auch nicht auf dieselbe Art gern, nicht wahr?« Davy setzte sich auf und dachte nach.

»N-n-nein«, gestand er schließlich. »Dora mag ich, weil sie meine Schwester ist, dich mag ich, weil du du bist.«

»Ich mag Paul, weil er Paul ist, und Davy, weil er Davy ist«, sagte Anne vergnügt.

»Hm, dann hätte ich wohl besser doch gebetet«, sagte Davy überzeugt von dieser Logik. »Aber es ist zu lästig, jetzt extra noch mal aufzustehen. Dafür bete ich morgen früh zweimal, Anne. Geht das nicht genauso gut?«

Nein, Anne wusste entschieden, dass das nicht genauso gut ging. Also kroch Davy aus dem Bett und kniete sich neben sie hin. Nachdem er sein Gebet aufgesagt hatte, lehnte er sich auf seine bloßen braunen Fersen zurück und sah zu ihr hoch.