»Anne, ich hab mich gebessert im Vergleich zu früher.«
»Ja, das stimmt, Davy«, sagte Anne, die mit Lob nicht geizte, wenn ein Lob am Platze war.
»Ich weiß es«, sagte Davy überzeugt, »ich sag dir auch, wieso. Heute hat Manila mir zwei Scheiben Brot mit Marmelade gegeben, eine für mich und eine für Dora. Die eine war viel größer. Marilla hat nicht gesagt, welche für mich ist. Also ich habe die größere Scheibe Dora gegeben. Das war doch gut von mir, nicht wahr?«
»Sehr gut und sehr anständig, Davy.«
»Klar«, gab Davy zu, »Dora hat keinen großen Hunger. Sie hat nur eine halbe Scheibe gegessen und mir den Rest gegeben. Aber das konnte ich ja vorher nicht wissen, also war es gut von mir, Anne.«
In der Dämmerung schlenderte Anne an den Nymphenteich und sah Gilbert Blythe den finsteren Geisterwald entlangkommen. Plötzlich wurde ihr klar, dass Gilbert kein Schuljunge mehr war. Wie erwachsen er aussah - ein großer, offenherziger Mann mit klaren, aufrichtigen Augen und breiten Schultern. Anne fand Gilbert durchaus ansehnlich, auch wenn er nichts mit ihrem Traummann gemein hatte. Vor langer Zeit hatten Diana und sie sich überlegt, wie ihr Traummann sein müsste. Sie hatten genau gleiche Vorstellungen gehabt. Er musste groß sein, blendend aussehen, melancholische, unergründliche Augen und eine weiche, sympathische Stimme haben. Gilbert hatte weder etwas Melancholisches noch Unergründliches, aber bei einer bloßen Freundschaft spielte das natürlich keine Rolle!
Gilbert streckte sich im Farn neben dem Teich aus und sah Anne zustimmend an. Hätte man Gilbert nach seiner Traumfrau gefragt, seine Beschreibung hätte Punkt für Punkt auf Anne zugetroffen - auch auf die sieben winzigen Sommersprossen, die Anne abscheulicherweise immer noch Verdruss bereiteten. Gilbert hatte noch immer etwas Jungenhaftes. Und ein Junge hat wie jeder andere auch seine Träume. Gilbert träumte stets von einem Mädchen mit großen graugrünen Augen und einem Gesicht so fein und zart wie eine Blume. Er hatte sich entschieden und wollte sich der Angebeteten würdig zeigen. Sogar im ruhigen Avonlea sah man sich Versuchungen ausgesetzt. Die Jugendlichen von White Sands waren ein »flottes Völkchen« und Gilbert war überall beliebt. Aber er wollte sich Annes Freundschaft erhalten - und eines fernen Tages vielleicht ihre Liebe. Erwachte so eifersüchtig auf jedes Wort, jeden Gedanken und jede Handlung, als ob ihr ungetrübter Blick ein Urteil darüber ablegte. Sie übte unbewusst auf ihn den Einfluss aus, wie ihn jedes Mädchen mit hohen und hehren Idealen auf seine Freunde ausübt. Ein Einfluss, der so lange währen würde, wie sie ihren Idealen treu blieb und den sie so gewiss verlieren würde, war sie auch nur ein einziges Mal unaufrichtig ihnen gegenüber. Gilbert war von Anne vor allem deswegen angezogen, weil sie sich nicht wie so viele andere Mädchen in Avonlea zu irgendwelchen Tändeleien hergab - kleine Eifersüchteleien, kleine Ränkeleien und Rivalitäten, all die unverkennbaren Bemühungen um Gunst. Anne hielt sich von alldem fern, nicht bewusst oder absichtlich, sondern einfach weil es ihrer offenen gefühlsbetonten Natur - kristallklar in ihren Beweggründen und ihrem Bestreben -völlig fremd war.
Aber Gilbert fasste seine Gedanken nicht in Worte, denn er wusste nur allzu gut, dass Anne kühl und gnadenlos jeden Versuch, über ihre Gefühle zu sprechen, im Keim ersticken würde - oder ihn auslachte, was zehnmal schlimmer war.
»Du siehst wie eine richtige Dryade aus, wie du so unter der Birke liegst«, neckte er sie.
»Ich mag Birken«, sagte Anne und legte auf ihre natürliche Art die Wange anmutig liebkosend an den cremefarbenen schlanken Baumstamm.
»Dann wirst du mit Freude vernehmen, dass Mr Major Spencer an der ganzen Vorderseite entlang seiner Farm eine Reihe Weißbirken pflanzen will, um damit den D.V.V. zu unterstützen«, sagte Gilbert. »Er hat es mir heute erzählt. Major Spencer hat den größten Gemeinsinn und ist am fortschrittlichsten von allen in ganz Avonlea. Mr. William Bell will entlang der Vorderseite seiner Farm und den Weg zu ihm hinauf eine Hecke anpflanzen. Unser Verein macht prächtige Fortschritte, Anne. Wir sind aus der Versuchsphase heraus und werden akzeptiert. Die älteren Leute fangen auch an, sich dafür zu interessieren, und die Bewohner von White Sands überlegen, ob sie nicht auch einen Verein gründen sollen. Sogar Elisha Wright lenkt ein, seit die Amerikaner aus dem Hotel unten am Strand gepicknickt haben. Sie waren voll des Lobes über unsere Wegränder und sagten, sie wären viel schöner als sonst wo auf der Insel. Wenn die anderen Farmer Mr. Spencers gutem Beispiel folgen und Zierbäume und Hecken entlang der Straßen anpflanzen, wird Avonlea der schönste Ort der ganzen Provinz.«
»Das Hilfswerk will sich vielleicht um den Friedhof kümmern«, sagte Anne. »Ich hoffe es, denn dazu müssen sie eine Spendenaktion starten. Nach der Saalgeschichte hätte es keinen Zweck, wenn wir das übernähmen. Aber sie wären nie darauf gekommen, hätten wir sie nicht darauf gebracht. Die Bäume, die wir bei der Kirche gepflanzt haben, gedeihen, und die Schulbehörden haben zugesagt, dass sie nächstes Jahr einen Zaun um die Schule errichten werden. Wenn sie das Versprechen wahrmachen, werde ich einen Baumpflanztag abhalten, an dem jeder Schüler einen Baum pflanzt. In der Ecke zur Straße hin legen wir einen Garten an.«
»Wir haben bisher mit fast allen unseren Vorhaben Erfolg gehabt, bis auf den Abriss des alten Boulter’schen Hauses«, sagte Gilbert. »In dem Fall habe ich alle Hoffnung aufgegeben. Levi reißt es nicht ab, nur um uns zu ärgern. Alle Boulters sind störrisch und er ganz besonders.«
»Julia Bell will eine Abordnung zu ihm schicken, aber ich halte es für besser, ihn einfach links liegen zu lasen«, sagte Anne klug.
»Und auf Gottes Fügung zu vertrauen, wie Mrs Lynde zu sagen pflegt«, lächelte Gilbert. »Völlig richtig, keine weiteren Abordnungen hinschicken. Das bringt ihn nur auf die Palme. Julia Bell meint, mit einer Abordnung könne man alles erreichen. Nächstes Frühjahr, Anne, müssen wir eine neue Kampagne für gepflegte Grünflächen und Anlagen starten. Wir müssen rechtzeitig diesen Winter einsäen. Ich habe hier einen Bericht über Grünflächen und wie man sie anlegt. Ich werde zu dem Thema demnächst etwas ausarbeiten. Tja, unsere Ferien sind fast um. Montag fängt die Schule an. Hat Ruby Gillis die Stelle an der Schule in Carmody bekommen?«
»Ja, Priscilla hat geschrieben, dass sie an ihrer Heimatschule eine Stelle bekommen hat. Also hat die Schulbehörde von Carmody Ruby die Stelle angeboten. ich finde es schade, dass Priscilla nicht wieder herkommt. Aber da es nicht geht, freue ich mich für Ruby. Sie kommt samstags nach Hause. Es ist wie in alten Zeiten, jetzt, wo Ruby, Jane, Diana und ich wieder zusammen sind.«
Marilla, die gerade von Mrs Lynde zurückkam, setzte sich mit Anne auf die Stufe der hinteren Veranda, als Anne zum Haus zurückkehrte. »Rachel und ich haben für morgen unseren Stadtbummel geplant«, sagte sie. »Mr Lynde geht es diese Woche besser. Sie möchte in die Stadt fahren, bevor er wieder krank wird.«
»Ich will morgen ganz früh aufstehen, weil ich viel vorhabe«, sagte Anne. »Zum einen will ich die Federn aus meinem alten Bett in das neue füllen. Ich hätte das schon längst tun sollen, aber ich habe es dauernd vor mir hergeschoben - ich hasse diese Arbeit. Es ist wirklich eine schlechte Angewohnheit, Unangenehmes aufzuschieben. Ich werde es auch nicht wieder tun, wie kann ich es sonst ruhigen Gewissens von meinen Schülern verlangen. Das beißt sich. Zum anderen will ich einen Kuchen für Mr Harrison backen, meine Ausarbeitung für den D.V.V. über Gärten fertig stellen, an Stella schreiben, mein Musselinkleid waschen und stärken und Dora die neue Schürze nähen.«
»Davon schaffst du nicht die Hälfte«, sagte Marilla pessimistisch. »Ich habe noch nie groß vorher Pläne gemacht, weil mir sowieso immer etwas dazwischenkommt.«