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20 - Durchkreuzte Pläne

Am nächsten Morgen stand Anne in aller Herrgottsfrühe auf und hieß fröhlich den neuen Tag willkommen. Die Strahlenbanner der aufgehenden Sonne leuchteten triumphierend am perlmuttfarbenen Himmel. Green Gables war in ein Meer von Sonnenschein getaucht, gesprenkelt von den tanzenden Schatten der Pappeln und Weiden. Jenseits des Wegs lag Mr Harrisons Weizenfeld, eine riesige, vom Wind gekräuselte Fläche weißlichen Goldes. Die Welt war so wunderschön, dass Anne zehn selige Minuten lang untätig an der Gartenpforte lehnte und die Schönheit in sich aufsog.

Nach dem Frühstück machte sich Marilla fertig für die Fahrt. Dora durfte mit, weil sie ihr das schon seit langem versprochen hatte. »Also, Davy, sei brav und lass Anne in Ruhe«, befahl sie ihm streng. »Wenn du brav bist, bring ich dir aus der Stadt einen rotweiß gestreiften Spazierstock aus Zucker mit.«

Ach je, hatte sich Marilla doch wieder einmal dazu herabgelassen, ihn zu bestechen, dass er sich anständig aufführte!

»Ich benehme mich nicht absichtlich schlecht, aber mal angenommen, es passiert mir aus Versehen?«, wollte Davy wissen.

»Hüte dich«, warnte Marilla ihn. »Anne, wenn Mr Shearer heute kommt, serviere ihm eine ordentliche Portion Kartoffeln und Fleisch. Ansonsten musste du für morgen Mittag ein Huhn schlachten.« Anne nickte.

»Ich mache mir nicht die Arbeit und koch nur für Davy und mich etwas zu Mittag«, sagte sie. »Der kalte Braten reicht als Mittagessen. Für dich brate ich etwas Fleisch für den Fall, dass du heute Abend spät nach Hause kommst.«

»Ich helfe Mr Harrison heute Vormittag auf dem Feld«, verkündete Davy. »Er hat mich darum gebeten. Schätzungsweise bittet er mich auch zum Mittagessen dazubleiben. Mr Harrison ist furchtbar nett. Er ist wirklich umgänglich. Wenn ich groß bin, möchte ich so sein wie er. Ich meine, so sein wie er, so aussehen wie er will ich nicht. Aber da besteht wohl keine Gefahr, denn Mrs Lynde sagt, ich wäre hübsch. Meinst du, dass ich das bleibe, Anne? Das will ich wissen.«

»Ich denke doch«, sagte Anne ernst. »Du bist hübsch, Davy« - Manilas missbilligende Blicke sprachen Bände -, »aber du musst dich auch dementsprechend aufführen, musst genauso nett sein, wie du aussiehst, und dich wie ein Gentleman benehmen.«

»Aber zu Minnie May Barrie hast du neulich gemeint, als sie geheult hat, weil jemand gesagt hat, sie wäre hässlich, wenn sie nett, freundlich und liebenswert wäre, wäre den Leuten egal, wie sie aussieht«, sagte Davy unbefriedigt. »Kommt mir ganz so vor, dass einem so oder so nichts anderes übrig bleibt, als anständig zu sein. Man muss ganz einfach anständig sein.«

»Willst du das denn nicht?«, fragte Marilla, die eine Menge gelernt hatte, aber noch nicht gelernt hatte, wie zwecklos solche Fragen waren.

»Doch, aber nicht übertrieben anständig«, sagte Davy vorsichtig. »Man muss auch nicht besonders anständig sein, um Leiter der Sonntagsschule zu werden. Mr Beil ist der Leiter und er ist ganz und gar nicht anständig.«

»Das ist er sehr wohl«, sagte Marilla ungehalten.

»Ist er nicht, das sagt er selbst«, beteuerte Davy. »Er hat es letzten Sonntag in seinem Gebet in der Sonntagsschule gesagt. Er sagte, er sei eine niederträchtige Kreatur, ein elender Wurm und habe sich der schlimmsten Sünden schuldig gemacht. Was hat er Schlimmes getan, Marilla? Hat er jemanden umgebracht? Oder die Kollekte gestohlen? Das will ich wissen.«

Zum Glück kam in diesem Augenblick Mrs Lynde den Weg hinaufgefahren. Marilla machte sich aus dem Staub in dem Gefühl, der Falle entkommen zu sein. Sie wünschte inbrünstig, Mr Bell würde sich beim Gebet einer weniger bildreichen Sprache bedienen, vor allem bei kleinen Jungen, die immer alles »wissen wollen«.

Anne war allein in ihrem Reich und machte sich eifrig ans Werk. Der Flur war gefegt, die Betten gemacht, die Hühner gefüttert und das Musselinkleid gewaschen, das jetzt draußen auf der Leine hing. Dann machte sie sich daran, die Federn umzufüllen. Sie stieg auf den Speicher und zog das erstbeste Kleid an, das ihr in die Hände fiel - ein marineblaues Kaschmirkleid, das sie mit vierzehn getragen hatte. Es war viel zu kurz und »zerlumpt« wie all das halbwollene Zeug, das Anne bei ihrem Antrittsbesuch auf Green Gables getragen hatte. Zu guter Letzt band Anne sich noch ein rotweiß gepunktetes Taschentuch um den Kopf, das Matthew gehört hatte. Dann ging sie in das Zimmer über der Küche, in das Marilla ihr vor der Abfahrt das Federbett hatte tragen helfen.

Neben dem Fenster hing ein kaputter Spiegel. Unglücklicherweise warf Anne einen Blick hinein. Da waren diese sieben Sommersprossen auf ihrer Nase, die mehr denn je auffielen, oder jedenfalls sah es in dem grellen Licht an dem verdunkelten Fenster so aus.

»Oh, ich habe gestern Abend vergessen mir die Nase einzureiben«, dachte sie. »Am besten, ich laufe schnell in die Speisekammer und hole es jetzt nach.«

Anne hatte schon einiges über sich ergehen lassen, um die Sommersprossen loszuwerden. Einmal war die ganze Haut von der Nase abgepellt, aber die Sommersprossen blieben. Einige Tage zuvor hatte sie in einer Zeitschrift eine Anleitung für Sommersprossen-Lotion entdeckt und, soweit sie die Zutaten zur Hand hatte, sie sofort zusammengemixt - zum großen Entsetzen von Marilla, die der Ansicht war, wenn Gott einen mit Sommersprossen auf der Nase ausgestattet hatte, man sie gefälligst auch zu belassen habe. Anne lief nach unten in die Speisekammer, in der es, sonst ohnehin ziemlich düster wegen der großen Weide dicht am Fenster, jetzt fast dunkel war, weil der Laden geschlossen war, damit keine Fliegen hereinkamen. Anne schnappte die Flasche mit der Lotion vom Regal und rieb ihre Nase mit einem eigens für diesen Zweck bestimmten Schwamm reichlich damit ein. Nachdem diese wichtige Angelegenheit erledigt war, machte sie sich wieder an die Arbeit.

Jeder, der schon einmal Federn von einem Inlett in ein anderes umgefüllt hat, kann sich vorsteilen, wie Anne danach aussah. Ihr Kleid war weiß vor Daunen und Flaum, die Stirnhaare, die unter dem Taschentuch herausschauten, schmückte ein wahrer Heiligenschein aus Federn, in diesem günstigen Augenblick klopfte jemand an die Küchentür.

»Das muss Mr Shearer sein«, dachte Anne. »Ich sehe furchtbar aus, aber ich muss, so wie ich bin, nach unten gehen. Er hat es immer so eilig.«

Anne stürmte nach unten an die Küchentür.

Auf der Stufe standen Priscilla, strahlend schön in einem Seidenkleid, eine kleine, korpulente, grauhaarige Dame in einem Tweedkostüm und eine große, stattliche, wundervoll gekleidete Frau mit einem schönen, vornehmen Gesicht und großen, veilchenblauen Augen mit schwarzen Wimpern, die Anne »instinktiv«, wie sie es früher genannt hatte, für Mrs Charlotte E. Morgan hielt.

Vor Entsetzen kam Anne in ihrer Verwirrung nur ein Gedanke in den Sinn, an den sie sich klammerte wie an den sprichwörtlichen Strohhalm. Wenn Mrs Morgans Heldinnen für etwas bekannt waren, dann dafür, dass sie »sich einer Lage gewachsen zeigten«, ln welchen Schwierigkeiten sie auch steckten, sie waren stets Herr der Lage und meisterten alle Widrigkeiten des Lebens. Also hielt Anne es ebenfalls für ihre Pflicht, sich der Lage gewachsen zu zeigen. Das gelang ihr so gut, dass Priscilla hinterher erklärte, sie hätte Anne Shirley nie mehr bewundert als in diesem Augenblick. Welch schändliche Gefühle sie auch hegte, sie zeigte sie nicht. Sie begrüßte Priscilla, wurden deren Begleiterinnen vorgestellt und blieb so ruhig und gelassen, als wäre sie in Purpur und feines Leinen gekleidet. Gewiss, es war schon irgendwie ein Schock, feststellen zu müssen, dass die Dame, die sie instinktiv für Mrs Morgan gehalten hatte, gar nicht Mrs Morgan war, sondern eine unbekannte Mrs Pendexter. Die korpulente, untersetzte, grauhaarige Frau war Mrs Morgan. Aber angesichts des größeren Schocks verlor der kleinere an Gewicht. Anne führte ihre Gäste ins Empfangszimmer und von dort aus ins Wohnzimmer. Sie ließ sie dort allein, um nach draußen zu eilen und Priscilla beim Abschirren des Pferdes zu helfen.