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»Es tut mir Leid, dass wir dich so überrumpeln«, entschuldigte sich Priscilla. »Aber bis gestern Abend hatte ich selbst keine Ahnung davon. Tante Charlotte fährt am Montag wieder ab. Sie wollte heute eigentlich eine Freundin in der Stadt besuchen. Gestern Abend rief ihre Freundin sie an und sagte, sie könne nicht kommen, weil sie Scharlach hätte. Also habe ich vorgeschlagen, stattdessen hierherzufahren, weil ich ja wusste, wie sehnlichst gern du sie kennen lernen wolltest. Wir haben im Hotel in White Sands angerufen und Mrs Pendexter abgeholt. Sie ist eine Freundin meiner Tante und kommt aus New York. Ihr Mann ist Millionär. Wir können nicht lange bleiben, weil Mrs Pendexter gegen fünf wieder im Hotel sein muss.«

Mehrfach, während sie das Pferd wegfuhrten, ertappte Anne Priscilla dabei, wie sie sie verstohlen und bestürzt ansah.

»Sie braucht mich gar nicht anzustarren«, dachte Anne leicht gereizt. »Wenn sie schon nicht weiß, was es heißt, ein Federbett umzufüllen, dann kann sie es sich wenigstens einmal vorstellen.«

Als Priscilla ins Wohnzimmer gegangen war - noch ehe Anne nach oben entfliehen konnte -, trat Diana in die Küche. Anne packte die erstaunte Freundin am Arm.

»Diana Barry, wer, glaubst du, sitzt in eben diesem Augenblick dort im Wohnzimmer? Mrs Charlotte E. Morgan. Und die Frau eines New Yorker Millionärs. Und ich stehe ohne etwas da — wir haben nichts zum Mittagessen im Haus außer kalten Braten, Diana!«

Da fiel Anne auf, dass Diana sie genauso bestürzt ansah, wie Priscilla sie angeschaut hatte. Das war wirklich zu viel.

»0 Diana, starre mich nicht so an«, flehte sie. »Du zumindest müsstest wissen, dass auch der ordentlichste Mensch der Welt nicht Federn von einem Bett in ein anderes umfüllen kann und hinterher noch genauso ordentlich aussieht wie vorher.«

»Es . . . es . . . ist nicht wegen der Federn«, sagte Diana zögernd. »Es ... es ist wegen deiner Nase, Anne.«

»Meine Nase? Oh, Diana, damit stimmt doch alles?«

Anne stürzte an den kleinen Spiegel über dem Spülbecken. Ein Blick enthüllte die verheerende Wahrheit. Ihre Nase leuchtete scharlachrot!

Anne setzte sich aufs Sofa, ihre Unerschrockenheit schwand dahin.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte Diana. Ihre Neugierde war stärker als der Takt.

»Ich dachte, ich reibe sie mit meiner Sommersprossen-Lotion ein, aber ich muss diese rote Farbe erwischt haben, womit Marilla die Muster auf ihre Teppiche zeichnet«, lautete die verzweifelte Antwort. »Was soll ich nur tun?«

»Sie abwaschen«, sagte Diana vernünftig.

»Vielleicht lässt sie sich nicht abwaschen. Erst färbe ich mir die Haare, dann die Nase. Als ich mir die Haare gefärbt hatte, hat Marilla sie mir abgeschnitten. Aber das Mittel lässt sich in dem Fall wohl nicht anwenden. Tja, das ist die Strafe für Eitelkeit. Ich habe sie wohl verdient — auch wenn das kein großer Trost ist. Allmählich glaube ich, ich werde vom Pech verfolgt, obwohl Mrs Lynde sagt, so etwas gäbe es nicht, weil alles vorherbestimmt sei.«

Zum Glück ließ sich die Farbe leicht abwaschen. Anne ging halbwegs getröstet in den Ostgiebel, während Diana nach Hause rannte. Nach kurzer Zeit kam Anne umgezogen und gut gelaunt wieder herunter. Das Musselinkleid, das sie so gern angezogen hätte, hing munter flatternd draußen auf der Leine. Also musste sie sich mit ihrem schwarzen Batistkleid zufriedengeben. Sie hatte das Feuer angezündet und den Tee aufgebrüht, als Diana mit einer zugedeckten Schüssel wieder kam. Wenigstens sie trug ihr Musselinkleid.

»Das schickt meine Mutter«, sagte sie und nahm das Tuch herunter. Anne erblickte dankbar ein fertig zubereitetes Huhn. Dazu gab es frisches Weißbrot, köstlichen Käse und Butter, von Marillas Früchtekuchen und eine Schüssel voll eingemachter Pflaumen, die im goldenen Saft schwammen wie in eingefrorenem Sommersonnenschein. Außerdem stand zur Dekoration eine große Vase mit rosaweißen Astern auf dem Tisch. Aber im Vergleich zu dem vollendeten früheren Essen, das sie für Mrs. Morgan zubereitet hatten, erschien das Mahl ausgesprochen armselig.

Annes hungrige Gäste jedoch schienen nichts zu vermissen und verspeisten die einfachen Köstlichkeiten mit sichtlichem Genuss. Bald verschwendete Anne keinen Gedanken mehr daran, was oder was nicht auf dem Tisch stand. Mrs Morgans Erscheinung war alles in allem etwas enttäuschend, was selbst ihre treuen Verehrerinnen einander eingestehen mussten. Aber sie erwies sich als einen reizende Unterhalterin. Sie war weit herumgekommen und konnte wunderbar Geschichten erzählen. Sie hatte viele Frauen und Männer kennen gelernt und schilderte ihre Erlebnisse in geistreichen kurzen Sätzen und Epigrammen, was ihren Zuhörerinnen das Gefühl vermittelte, als lauschten sie einer Figur aus einem gescheiten Buch. Aber in ihren vor Geist sprühenden Erzählungen spürte man unterschwellig eine starke Aufrichtigkeit, das Verständnis einer Frau und eine Gutherzigkeit, von der man so leicht in Bann gezogen wurde, wie man ihrer Brillanz Bewunderung zollte. Auch drehte sich die Unterhaltung nicht nur um sie. Sie konnte andere so geschickt aus der Reserve locken, wie sie selbst zu erzählen verstand. Anne und Diana plauderten freimütig mit ihr. Mrs Pendexter sprach wenig. Sie lächelte nur mit ihren hübschen Augen und Lippen und aß Huhn, Kuchen und Pflaumen mit so feiner Anmut, dass sie den Eindruck vermittelte, als äße sie Götterspeise und Honigmelasse. Aber schließlich, wie Anne später zu Diana sagte, brauchte eine so himmlische Schönheit wie Mrs Pendexter nicht zu reden, es reichte, wenn sie nur da war.

Nach dem Mittagessen machten sie einen Spaziergang durch die Liebeslaube, das Veilchental, den Birkenpfad und dann zurück durch den Geisterwald zum Nymphenteich. Dort ließen sie sich nieder und unterhielten sich eine herrliche letzte halbe Stunde. Mrs Morgan wollte wissen, wie der Geisterwald zu seinem Namen käme. Sie brüllte regelrecht vor Lachen, als sie die Geschichte erfuhr und über Annes dramatische Schilderung von jenem denkwürdigen Spaziergang durch den Wald in der Geisterstunde der Dämmerung.

»Das war wirklich ein überschäumendes Fest, nicht wahr?«, sagte Anne, als die Gäste gegangen und sie und Diana wieder allein waren. »Ich weiß nicht, was ich mehr genossen habe - Mrs Morgan zu lauschen oder Mrs Pendexter anzuschauen. Es war schöner, als wenn sie ihren Besuch angekündigt hätten. Dann wären wir dauernd mit Essen auftragen beschäftigt gewesen. Du musst zum Tee hier bleiben, Diana, wir bereden das Ganze noch einmal.«

»Priscilla hat erzählt, die Schwester von Mrs Pendexters Mann ist mit einem englischen Grafen verheiratet und trotzdem hat sie sich noch eine zweite Portion von den Pflaumen genommen«, sagte Diana, so als wären die beiden Tatsachen unvereinbar.

»Selbst der englische Graf persönlich hätte über Marillas Pflaumen nicht seine aristokratische Nase gerümpft«, sagte Anne stolz.

Das Unglück mit ihrer Nase erwähnte Anne nicht, als sie am Abend Marilla den Tag schildert. Aber sie nahm die Flasche mit der Sommersprossen-Lotion und schüttete sie aus dem Fenster.

»Ich werde nie mehr Schönheitstinkturen verwenden«, sagte sie finster entschlossen. »Bei vorsichtigen und besonnenen Leuten mag es ja klappen. Aber für jeden, der wie ich ein so hoffnungsloses Talent besitzt, dauernd irgendwelche Fehler zu machen, heißt es das Schicksal unnötig herauszufordern.«

21 - Die liebenswerte Miss Lavendar

Die Schule begann. Anne nahm ihre Arbeit mit weniger Theorien im Kopf, aber entschieden mehr Erfahrung wieder auf. Sie hatte mehrere neue Schüler, die zwischen sechs und sieben Jahren alt waren und mit großen runden Augen in die Welt schauten. Unter ihnen waren auch Davy und Dora. Davy saß neben Milty Boulter, der bereits seit einem Jahr die Schule besuchte und also schon ein Mann von Welt war. Dora hatte sonntags zuvor in der Sonntagsschule mit Lily Sloane abgemacht, dass sie nebeneinander sitzen wollten. Aber da Lily Sloane am ersten Schultag nicht in die Schule kam, wurde Dora einstweilen der Platz neben Mirabel Cotton zugewiesen; sie war zehn Jahre alt und gehörte in Doras Augen daher schon zu »den großen Mädchen«.