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»Die Schule macht riesigen Spaß«, erzählte Davy Marilla, als er am Nachmittag nach Hause kam. »Du hast gemeint, es würde mir schwer fallen stillzusitzen. Es war schwer - du hast fast immer mit allem Recht, fällt mir auf. Aber man kann unter dem Tisch mit den Beinen zappeln, das hilft eine ganze Menge. Prima ist, dass man so viele Jungen zum Spielen hat. Ich sitze neben Milty Boulter, der ist nett. Er ist größer als ich, aber dafür bin ich dicker, ln den hinteren Bänken zu sitzen ist schöner, aber da bekommt man erst einen Platz, wenn die Beine lang genug sind und den Fußboden berühren. Milty hat auf seine Tafel ein ganz hässliches Bild von Anne gemalt. Ich habe zu ihm gesagt, wenn er weiter solche Bilder von Anne malt, würde ich ihn in der Pause versengen. Zuerst hatte ich vor, ihn mit Hörnern und Schwanz zu malen, aber dann wäre er vielleicht beleidigt gewesen. Wo Anne doch immer sagt, man solle niemals jemanden beleidigen. Das scheint was ganz Schlimmes zu sein. Man schlägt besser einen Jungen zu Boden, als dass man ihn beleidigt, wenn man schon eins von beiden tun muss. Milty behauptet, er hätte keine Angst vor mir, aber mir zu Gefallen könnte er auch einen anderen Namen unter das Bild schreiben. Also hat er Annes Namen ausgewischt und Barbara Shaw darunter gesetzt. Milty kann Barbara nämlich nicht ausstehen, weil sie ihn süß findet. Einmal hat sie ihm sogar den Kopf getätschelt.«

Dora sagte artig, dass ihr die Schule gefiele. Aber selbst für ihre Verhältnisse war sie sehr schweigsam. Als Marilla sie bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett schicken wollte, zögerte sie und fing an zu weinen.

»Ich ... ich habe Angst«, schluchzte sie. »Ich ... ich mag nicht allein im Dunkeln nach oben gehen.«

»Was spukt dir jetzt im Kopf herum?«, fragte Marilla. »Du bist doch den ganzen Sommer allein ins Bett gegangen und hast keine Angst gehabt.«

Dora hörte nicht auf zu weinen. Anne nahm sie hoch, drückte sie mitfühlend und sagte leise: »Erzähl es mir Dora, Herzchen. Wovor hast du Angst?«

»Vor... vor Mirabel Cottons Onkel«, schluchzte Dora. »Mirabel Cotton hat mir heute in der Schule ihre ganze Familiengeschichte erzählt. Fast alle in ihrer Familie sind gestorben - alle Großmütter und Großväter und ganze viele Tanten und Onkel. Sie sterben alle weg, sagt Mirabel. Sie ist furchtbar stolz darauf, so viele tote Verwandte zu haben. Sie hat mir erzählt, woran sie gestorben sind, was sie gesagt und wie sie in ihren Särgen ausgesehen haben. Einer ihrer Onkel wurde gesehen, wie er nach seiner Beerdigung ums Haus schlich. Ihre Mutter hat ihn gesehen. Das andere macht mir weiter nichts aus, ich muss nur dauernd an diesen Onkel denken.«

Anne ging mit Dora nach oben und setzte sich neben sie ans Bett, bis sie eingeschlafen war. Am nächsten Tag in der Pause rief sie Mirabel zu sich und gab ihr »freundlich, aber entschieden« zu verstehen, dass es bedauerlich sei, einen Onkel zu haben, der unbeirrt weiter um anderer Leute Häuser wanderte, nachdem er in aller Form begraben worden war, und dass es geschmacklos sei, mit der viel jüngeren Tischnachbarin über diesen wunderlichen Herrn zu sprechen. Mirabel traf das hart. Die Cottons hatten nichts, womit sie hätten prahlen können. Wie konnte sie ihr Ansehen unter ihren Mitschülern wahren, wenn man ihr verbat, aus ihrem Familiengeist Kapital zu schlagen? Der September verstrich und ging über in den goldenen, alles rot färbenden anmutigen Oktober. Eines Freitags abends kam Diana vorbei.

»Ich habe heute einen Brief von Ella Kimbell bekommen, Anne. Sie möchte, dass wir morgen Nachmittag zum Tee kommen, damit wir ihre Cousine Irene Trent aus der Stadt kennen lernen. Aber wir können keines unserer Pferde nehmen, weil sie morgen alle gebraucht werden, und euer Pferd lahmt, also fällt der Besuch ins Wasser.«

»Warum gehen wir nicht zu Fuß?«, schlug Anne vor. »Wenn wir direkt hinten durch den Wald gehen, stoßen wir nicht weit von den Kimballs auf die West-Grafton-Straße. Ich habe letzten Winter den Weg genommen und kenne mich aus. Es sind nicht mehr als vier Meilen. Zurück müssen wir nicht laufen, denn Oliver Kimball fährt uns bestimmt. Er wird sich freuen über die Ausrede, weil er Carrie Sloane besuchen will; angeblich überlässt ihm sein Vater höchst selten einmal ein Pferd.«

Also vereinbarten sie zu Fuß zu gehen. Am folgenden Nachmittag machten sie sich auf den Weg. Sie nahmen den Weg durch die Liebeslaube entlang der Rückseite der Cuthbert-Farm. Dort gelangten sie an einen Pfad, der geradewegs zu den schimmernden Buchen und in den Ahornwald führte, der wunderbar rot und golden glühte und in herrlichem Purpur still und friedlich dalag.

»Es ist, als ob sich das Jahr in einer riesigen Kathedrale erfüllt von zart getöntem Licht zum Gebet niederkniete, nicht wahr?«, fragte Anne verträumt. »Es ist nicht richtig, so hindurchzueilen. Es ist respektlos, wie wenn man in einer Kirche herumrennt.«

»Wir müssen uns aber beeilen«, sagte Diana und sah auf die Uhr. »Wir sind ohnehin schon spät dran.«

»Gut, ich beeile mich, aber verlange nicht von mir, dass wir uns unterhalten«, sagte Anne und beschleunigte den Schritt. »Ich möchte die Schönheit dieses Tages in mich aufnehmen - mir ist, als würde sie zu mir geführt wie ein Glas durchsichtigen Weins, an dem ich bei jedem Schritt nippe.«

Vielleicht lag es daran, dass Anne voll und ganz mit »In-sich-Aufnehmen« beschäftigt war, dass sie an der Gabelung die falsche Abzweigung einschlug. Sie hätte die rechte nehmen müssen, aber hinterher rechnete sie diesen Irrtum stets zu den schönsten Fehlern ihres Lebens. Sie gelangten schließlich an einen einsamen, grasbewachsenen Weg. Entlang des Wegs war weit und breit nichts zu sehen als junge Fichten.

»Nanu, wo sind wir?«, rief Diana verwundert. »Das ist nicht die West-Grafton-Straße.«

»Nein, es ist die Hauptstraße von Middle Grafton«, sagte Anne ziemlich beschämt. »Ich muss an der Gabelung die falsche Abzweigung genommen haben. Ich habe keine Ahnung, wo genau wir sind, aber wir müssen noch ganze drei Meilen von den Kimballs entfernt sein.«

»Dann kommen wir bis fünf nicht mehr dort an, jetzt ist es schon halb fünf«, sagte Diana mit einem hoffnungslosen Blick auf die Uhr. »Wir kämen erst nach dem Tee an, dann müssten sie sich die Arbeit machen und noch einmal für uns Tee kochen.«

»Wir kehren besser um und gehen nach Hause«, schlug Anne kleinlaut vor. Diana lehnte das nach einiger Überlegung ab.

»Nein, wir können genauso gut noch eine Weile weitergehen, wo wir schon so weit gelaufen sind.«

Kurz darauf kamen sie erneut an eine Gabelung.

»Welchen Weg nehmen wir?«, fragte Diana unschlüssig.

Anne schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht und noch einen Irrtum können wir uns nicht leisten. Da ist ein Tor und ein Weg, der direkt in den Wald führt. Am anderen Ende des Wegs muss ein Haus sein. Lass uns hingehen und nach dem Weg fragen.«

»Was für ein romantischer Weg!«, sagte Diana, als sie um die Biegungen und Windungen gingen. Er führte unter uralten Tannen hindurch, deren Zweige einander berührten und den Boden in ewiges Dämmerlicht tauchten, in dem nur Moose gediehen. An beiden Seiten war brauner Waldboden, auf den nur hier und da ein Sonnenstrahl fiel. Es war sehr still und abgeschieden, so als wären die Welt und alle Sorgen weit weg.

»Mir kommt es vor, als wanderten wir durch einen Zauberwald«, sagte Anne leise. »Meinst du, wir finden je wieder zurück in die wirkliche Welt, Diana? Wir kommen bestimmt gleich zu einem Palast mit einer verzauberten Prinzessin.«

Hinter der nächsten Biegung erblickten sie nicht gerade einen Palast, aber ein kleines Haus, das so verwunschen aussah, wie einen in dieser Gegend mit den üblichen Holzhäusern ein Palast verwundert hätte. Es ähnelte sehr einem Palast. Anne blieb verzückt stehen. Diana rief: »Ah, jetzt weiß ich, wo wir sind. Das ist das kleine Steinhaus, in dem Miss Lavendar Lewis wohnte - Echo Lodge nennt sie es, soweit ich weiß. Ich habe schon oft davon gehört, aber es noch nie gesehen. Ist es nicht ein romantisches Fleckchen?«